Kinderraub in Guatemala: Der Staat zeigt Reue

Entschuldigung für Kinderraub und illegale Adoptionen rund um den Bürgerkrieg

  • Moritz Osswald, Mexiko-Stadt
  • Lesedauer: 4 Min.
Guatemalas Präsident Bernardo Arévalo (l.) schüttelt dem zwangsadoptierten Osmín Tobar bei der Zeremonie die Hand.
Guatemalas Präsident Bernardo Arévalo (l.) schüttelt dem zwangsadoptierten Osmín Tobar bei der Zeremonie die Hand.

27 Jahre hat Osmín Tobar auf diesen Moment gewartet: Am 12. Juli erkannte Guatemala seine Schuld an den illegalen Adoptionen an, die eine ganze Generation zerrütteter Kinder hervorbrachte. Bei der Zeremonie im Nationalpalast der Kultur in Guatemala-Stadt erklärte Tobar: »Ich verlor meine Identität, meine Muttersprache und meine Kultur. Ich war eine verlorene Seele in einem fremden Land.« Präsident Bernardo Arévalo und Vizepräsidentin Karin Herrera nahmen teil.

1997 wurden die beiden Brüder Osmín Ricardo Tobar Ramírez (7) und Jeffrey Rainiery Arias Ramírez (2) voneinander getrennt und ihrer Familie entrissen. Das war ein Jahr nach den Friedensverträgen, die den Bürgerkrieg beendeten. Doch obwohl die Waffen ruhten, setzte sich eine menschenverachtende Praktik fort: der Handel mit Babys und Kleinkindern. Sie wurden künstlich zu Adoptivkindern gemacht – den Müttern kurz nach der Entbindung entrissen, aus Kinderheimen gestohlen.

Adoption ohne Wissen und Billigung des Vaters

Der Vater der Brüder Osmín und Jeffrey, Gustavo Tobar, stimmte der Adoption nie zu. Sie wurde ohne sein Wissen und seine Billigung durchgeführt – ein illegaler Akt. Er suchte über ein Jahrzehnt. Vergebens. Bereits 2002 interviewte ihn ein Reporter des Netzwerks Telemundo. Schon damals ging Gustavo von Gericht zu Gericht, von Instanz zu Instanz. Ohne Erfolg. 2010 war es dann soweit: Facebook vereinte die von einem korrupten Staat getrennte Familie. Osmín war bereits 21 Jahre alt. Er wuchs in Pennsylvania in den USA auf.

Eine Nachbarin hatte die Mutter der Familie damals aufgrund von vermeintlicher Vernachlässigung und Missbrauch angezeigt. Überprüft haben das die Behörden nie. Sie haben auch Osmín selbst nie gefragt. Doch es schien Grund genug für die korrupten Behörden, die Brüder Osmín und Jeffrey 1998 in ein Adoptionsprogramm zu stecken. Die illegale Adoption leitete Susana María de la Asunción Luarca Saracho in die Wege, verurteilt zu über 18 Jahren Gefängnis aufgrund von Menschenhandels und Dokumentenfälschung, wie die guatemaltekische Zeitung »Prensa Libre« berichtet. Sie arbeitete mit korrupten Richter*innen zusammen und bekam so freie Hand bei den Adoptionen.

Indigene Mütter Opfer eines korrupten Netzwerks

Osmín Tobar wollte Gerechtigkeit. Er ging 2017 mit seinem Fall vor den Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte. 2018 entschied der Gerichtshof zugunsten Osmíns – und erkannte die Schuld des guatemaltekischen Staates an. Es war der erste Fall, der öffentlich die kriminellen Machenschaften mit Kindern während des Krieges und danach anprangerte. Rechtlich hatte das Urteil keine direkten Auswirkungen.

In den 80ern, als sich Menschenrechtsverletzungen während des bewaffneten Konflikts (1960-1996) zuspitzten, entstand ein Schattennetzwerk aus korrupten Anwält*innen, Behörden und Politiker*innen. Die Opfer waren zumeist indigene Mütter ohne Mittel, sich zu wehren. Ihnen wurden ihre Kinder gestohlen, damit wohlhabende Paare in westlichen Ländern diese adoptieren konnten – im Glauben, etwas Gutes zu tun.

Arme Frauen ausgenutzt

Eine perfide Form der Profitmaximierung war geboren. Zudem nutzte das System arme Frauen aus, die ihre Kinder aus finanziellen Gründen zur Adoption hergeben mussten. Die Formalitäten waren minimal, Vollzug meist in zwei Wochen. Die Hotels der Hauptstadt waren voll von Paaren aus den USA, Kanada und Europa. Diese wussten im Großteil der Fälle nicht, dass sie ein Menschenhandelsnetzwerk unterstützten.

Zum System gehörten bestimmte Anwält*innen, die für bestimmte Länder »zuständig« waren. Auch in Deutschland gibt es Fälle. Die illegalen Adoptionen in der Bundesrepublik führte die Rechtsanwältin Rosa Elena Calderón durch. Das Suchkollektiv Estamos Aquí (Wir sind hier) schätzt, rund 35 000 Kinder seien im Rahmen irregulärer Adoptionen ihren leiblichen Eltern weggenommen worden. Ignacio Alvarado, der selbst als Kleinkind illegal nach Kanada zu einer Adoptivfamilie gekommen war, besuchte die Veranstaltung selbst und sagte »nd«: »Das ist ein historischer Moment für alle Adoptierten.« Er betont, dass es das erste Mal in der Geschichte des Landes sei, dass sich der Staat öffentlich entschuldigt. Eine Emotion »zwischen Freude und Tränen« bedeute das Ereignis für ihn.

Bevölkerung wartet weiter auf den Wandel

Nach rund sieben Monaten Amtszeit von Bernardo Arévalos wartet die Bevölkerung Guatemalas nach wie vor auf substanziellen Wandel. Die Regierung hat erste Akzente gesetzt – beispielsweise die Senkung der gestiegenen Strompreise bis zu einem gewissen Verbrauch, oder die Ernennung von Gouverneur*innen mit aktivistischem oder indigenem Hintergrund.

Doch ein großer Stein im Weg der sozialdemokratischen Bewegung ist Consuelo Porras, die Generalstaatsanwältin des Landes. Sie ist noch bis 2026 im Amt. Sie führt die Speerspitze des »Pakts der Korrupten« an, der alten Elite. Er übt weiterhin viel Einfluss auf Politik und Justiz in dem zentralamerikanischen Land aus.

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