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»Härteste Tür Berlins«: Jugendhilfe-Protest nach Aufnahmestopp

Angestellte der Kinder- und Jugendhilfe fordern nachhaltige Lösungen für überlastetes Hilfesystem

Beschäftigte der Kinder- und Jugendhilfe fordern den Senat vor dem Roten Rathaus zum Handeln auf.
Beschäftigte der Kinder- und Jugendhilfe fordern den Senat vor dem Roten Rathaus zum Handeln auf.

Ein Pappkind nach dem anderen stellt sich vor ein gebasteltes Tor. Getragen werden sie von Mitarbeiter*innen aus der Kinder- und Jugendhilfe, beschriftet mit einer Botschaft, welche die Notsituation des Kindes beschreibt. Ein paar werden durchgelassen, die meisten aber abgewiesen. »Die härteste Tür Berlins ist nicht mehr das Berghain, sondern die Kinder- und Jugendhilfe«, sagt Verena Bieler von der AG Weiße Fahnen. Am Donnerstagmorgen haben sich etwa 130 Beschäftigte vor dem Roten Rathaus versammelt, um die Landespolitiker*innen zum Handeln zu bewegen. »Die Jugendhilfe kollabiert, weil der Senat so schlecht regiert«, rufen sie im Sprechchor.

Auslöser für den Protest ist ein vom Senat im Juni erlassener teilweiser Aufnahmestopp des Kinder- und Jugendnotdienstes, weil dieser überbelegt ist. Die Einrichtungen des Berliner Notdienstes Kinderschutz (BNK) sollen laut Senatsjugendverwaltung weiter ihren »originären« Aufgaben nachkommen. Das heißt, Minderjährige nachts und am Wochenende, wenn die Jugendämter nicht geöffnet sind, aufnehmen, wenn eine entsprechende Gefährdungslage von Polizei oder den Mitarbeiter*innen selbst nach einem Hausbesuch festgestellt wurde oder wenn die Kinder keine Meldeadresse in Berlin haben. Aber alles darüber hinaus, etwa Aufnahmen nach Entlassungen der Kinder aus Hilfeeinrichtungen oder vom Jugendamt veranlasste Aufnahmen, verbietet die Jugendverwaltung bis zum 31. August.

»Die Situation, die wir jetzt haben, ist hausgemacht«, sagt Bieler. Seit Jahren machten Beschäftigte der Kinder- und Jugendhilfe auf die Probleme im überlasteten Hilfesystem aufmerksam, aber würden nicht gehört. Nach Brandbriefen und einem Kinder- und Jugendgipfel im vergangenen Jahr seien noch immer keine nachhaltigen Lösungen erarbeitet worden. Durch den Aufnahmestopp im Kinder- und Jugendnotdienst wüssten nun die Mitarbeiter*innen in den Jugendämtern nicht, wo sie die Kinder unterbringen sollten, weil auch die Kriseneinrichtungen und Folgeeinrichtungen des Hilfesystems überfüllt seien. »Kinder werden abgewiesen, die uns um Schutz bitten«, sagt Bieler. Es gehe den Protestierenden nicht darum, die ebenso überlasteten Kolleg*innen des BNK anzufeinden. »Die sind genauso arm dran wie wir. Wir richten uns an die politischen Verantwortlichen«, sagt Bieler.

Fabian Schmidt-Vidović von der Gewerkschaft GEW berichtet aus seiner Arbeit in einer ambulanten Hilfeeinrichtung. »Wir haben oft Situationen, in denen wir denken, die Kinder müssten wir eigentlich aus den Familien rausholen, aber es gibt die Plätze nicht«, sagt er. Geschwister könnten auch nicht in verschiedenen Stadtteilen untergebracht werden, weil sie das sonst noch mehr traumatisiere. »Wir versuchen dann in den Familien das Schlimmste zu verhindern, obwohl wir eigentlich schon wissen, dass wir mit der Familienhilfe am Ende sind.«

»Solange die Basis nicht beteiligt wird, müssen wir weiter protestieren.«

Verena Bieler AG Weiße Fahnen

Während der Kundgebung kommen weitere Beschäftigte der Jugendhilfe zum Mikrofon, um ihre Geschichten zu erzählen. »Ich habe jeden Tag Kinder, die ich nicht unterbringen kann, und dann muss ich überlegen, ob ich sie in den Familien lasse, wo Eltern drogenabhängig sind oder sich mit Waffen beschießen«, sagt eine Jugendamtsmitarbeiterin.

Die Jugendverwaltung begründet den teilweisen Aufnahmestopp damit, dass vermehrt freie Träger der stationären Jugendhilfe Kinder und Jugendliche aufgrund disziplinarischer Probleme in den Notdienst entließen. Dadurch könne der Notdienst seinen eigentlichen Aufgaben nicht mehr nachkommen. Ein Mitarbeiter in einer Kriseneinrichtung eines freien Trägers stellt dar, warum solche Entlassungen in den Notdienst veranlasst werden. »Es geht dabei um körperliche Gewalt oder um offenen Drogenkonsum in den Einrichtungen«, sagt er zu »nd«.

Es gebe keine Plätze in passenden spezialisierten Einrichtungen, um die Minderjährigen dann angemessen zu betreuen, so der Mitarbeiter. In einem Fall habe ein junger Mensch einem anderen die Haare angezündet und Löcher in die Wände geschlagen. »Wir sind nicht die richtige Einrichtung dafür. Wir mussten den Menschen letztlich auf die Straße entlassen.« Wenn es um junge Menschen mit Suchterkrankung oder anderen komplexen Hilfebedarfen gehe, dann landeten diese am Ende im Gefängnis oder in der Psychiatrie, weil es nicht die entsprechenden Hilfen gebe, sagt der Mitarbeiter der Kriseneinrichtung. Gleichzeitig blieben junge Menschen zu lange in den auf eine kürzere Verweildauer ausgelegten Kriseneinrichtungen, weil Kapazitäten in den Folgeeinrichtungen fehlten. Das führe bei den Minderjährigen zur Frustration über die festgefahrene Situation. »Das System ist verstopft.«

Die Jugendverwaltung hat laut Verena Bieler bislang nicht direkt auf Kontaktversuche der AG Weiße Fahnen sowie eine zum Aufnahmestopp verfasste Stellungnahme mit Forderungen reagiert. »Der Senat antwortet nur über die Presse«, sagt Bieler. Die AG Weiße Fahnen fordert schnellstmöglich ein Gipfeltreffen mit allen Akteur*innen der Jugendhilfe. »Solange die Basis nicht beteiligt wird, müssen wir weiter protestieren.«

Auf eine Anfrage von »nd« antwortete die Jugendverwaltung, es habe im vergangenen Jahr Kontakt zur AG Weiße Fahnen sowie zwei Fachveranstaltungen gegeben, zu einer sei auch die AG Weiße Fahnen eingeladen gewesen. Eine weitere sei im vierten Quartal des laufenden Jahres geplant, so Sprecherin Susanne Gonswa. Darüber hinaus äußerte sie sich nicht zu Senats-Reaktionen auf die Forderungen der AG Weiße Fahnen. Es habe bereits ein Spitzentreffen mit den Wohlfahrtsverbänden, den Jugendstadträten und den Jugendamtsleitungen zu einer besseren Zusammenarbeit zwischen Trägern und Jugendämtern gegeben. Seit Erlass des teilweisen Aufnahmestopps habe die Überbelegung im Jugendnotdienst abgebaut werden können.

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