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Israel: Ultraorthodoxe in Aufruhr
Das eigentliche gesellschaftliche Problem ist Israels Militarismus
»Die Armee braucht sofort 10 000 Soldaten« und die Armee kann »sofort 4800 orthodoxe Juden rekrutieren«, sagte Verteidigungsminister Joaw Galant vor ein paar Tagen und zog damit die Konsequenz aus dem Urteil, das der Oberste Gerichtshof im vergangenen Monat erlassen hatte. Die obersten Richter Israels entschieden einstimmig, dass es keinen rechtlichen Rahmen mehr gibt, der es der Regierung erlaubt, »orthodoxe Schüler in Religionsschulen vollständig vom Militärdienst zu befreien«. Die Ausnahmeregeln waren vor drei Monaten ausgelaufen und der Regierung unter Führung von Benjamin Netanjahu war es nicht gelungen, ein Gesetz zu verabschieden, das die Erleichterungen zementieren sollte.
Diese Frage ist nicht nur ein Problem für die Stabilität der Regierung, die von einem Bündnis aus Likud, rechtsextremen Parteien und orthodoxen religiösen Parteien getragen wird. Sie betrifft die israelische Gesellschaft als Ganzes und die Beziehungen zwischen der Bevölkerungsmehrheit und der ultraorthodoxen Gemeinschaft (Haredi) – mit potenziell verheerenden Auswirkungen für die Zukunft der Ultrareligiösen.
Der Text wurde »nd« zur Verfügung gestellt von der linken italienischen Tageszeitung »Il Manifesto«, mit der wir kooperieren.
Lange Diskussion um Befreiung vom Wehrdienst
Die Befreiung der Ultraorthodoxen vom Militärdienst und die staatliche Finanzierung der Jeschiwot, der talmudischen Akademien, sind in der israelischen Öffentlichkeit seit jeher Gegenstand heftiger Debatten, seit David Ben Gurion nach der Staatsgründung zustimmte, die damals etwa 400 Haredìm im wehrpflichtigen Alter auszunehmen. Jahrelang war die Rede davon, dass man sich auf ihre Einberufung in vielfältiger Weise vorbereite, aber wie der Journalist und Forscher Avischay Ben Haim erklärt, war das im Grunde nur ein Bluff, während das Privileg von einer Generation zur nächsten weitergegeben wurde, sei es durch Gesetzesverlängerungen oder durch Wohlwollen der Behörden.
Nach einigen Monaten des Pingpongs mit der Regierung entschied der Oberste Gerichtshof jedoch im vergangenen Juni einstimmig, dass es keinen rechtlichen Spielraum mehr gibt, der die jahrzehntelange Ausnahmepraxis rechtfertigen würde. Gleichzeitig untersagte das Gericht der Regierung, die Jeschiwot, deren Schüler die Befreiung erhalten hatten, weiterhin zu finanzieren, und wies die Armee an, unverzüglich Maßnahmen zu ergreifen.
Die Anordnung hat die gesamte ultraorthodoxe Welt in Aufruhr versetzt: Ihre Führer mobilisieren seit Wochen Scharen wütender Demonstranten, die sich bereit erklären, lieber zu sterben oder das Land zu verlassen, als »der Erpressung nachzugeben«. Unter dem Druck der Richter hat Verteidigungsminister Joaw Galant einen Plan zur Rekrutierung der Ultraorthodoxen gebilligt und so weiter Öl ins Feuer gegossen.
Um die laufenden Ereignisse einzuordnen, sind Überlegungen anderer Art erforderlich. Von einem säkularen Standpunkt aus hat Ben Gurion wahrscheinlich das demografische Wachstum unterschätzt, das die Ultraorthodoxen heute zu etwa zwölf Prozent der Bevölkerung des Landes macht, vor allem aber zum geburtenstärksten Teil – mit durchschnittlich etwa sieben Kindern pro Familie.
Wandel und Öffnung innerhalb der Ultraorthodoxen
Wenn man den Blick auf die Zionisten richtet, die religiösen eingeschlossen, ist es außerdem verständlich, dass die Last von mehr als neun Monaten Kampf an verschiedenen Fronten, getragen auf den Schultern von Soldaten und Reservisten, unter anderem dazu geführt hat, die Ausnahmestellung der Ultraorthodoxen in der Gesellschaft deutlich hervorzuheben – und damit die dringende Notwendigkeit, dass auch sie aus moralischen und praktischen Gründen die Last des Krieges auf sich nehmen.
Andererseits vollzieht sich ein Wandel in der ultraorthodoxen Gesellschaft, die, wenn auch in aller Stille, mit der Öffnung gegenüber dem Internet und der Arbeitswelt auch Schritte in Richtung Armee unternommen hat, dank spezieller Kampftruppen oder des »KodKod«-Programms, das junge Menschen für den Dienst in Eliteeinheiten des Geheimdienstes ausbildet und ihnen einen wertvollen zukünftigen Arbeitsplatz in der High-Tech-Industrie bietet.
Teil eines politischen Schachspiels
Die Aussicht auf ein hohes Gehalt, mit dem sie ihre großen Familien ernähren können, mag ein nicht unerheblicher Anreiz sein, um die Missbilligung ihrer Gesellschaft zu überwinden, in der das Torastudium formal immer noch an erster Stelle steht. Bis vor kurzem weigerten sich nur die Mitglieder der Peleg Jeruschalmi (Jerusalem-Fraktion), eine extremistische Strömung des litauischen ultraorthodoxen Judentums, beim Wehrpflichtbüro vorstellig zu werden, um den offiziellen Aufschubbescheid in Empfang zu nehmen. Nun aber scheinen Opposition und öffentliche Proteste selbst unter den Sephardim der Schas-Partei, die historisch gesehen gemäßigter sind und dem Zionismus – wenn auch zweideutig – nahe stehen, zum Prinzip geworden zu sein.
Dieser Kurswechsel könnte auch darauf zurückzuführen sein, dass sich die Ultraorthodoxen von der übrigen Bevölkerung, die sie kaum kennt, ins Visier genommen fühlen. Die Frage der Wehrpflicht scheint zum Einsatz in einem Schachspiel zwischen Netanjahu und seinen Rivalen geworden zu sein: den Richtern des Obersten Gerichtshofs und Verteidigungsminister Joaw Galant, der, obwohl er dem Likud angehört, keine Gelegenheit auslässt, um gegen den Premierminister zu punkten.
Politische Lösung wäre der Idealfall
Wie der Religionsphilosoph Jeschajahu Leibowitz bereits in den 60er Jahren sagte, ist die Verbindung zwischen Regierung und Religion, die säkulare Politiker dazu bringt, rabbinische Akademien zu finanzieren, um ihre Stimmen zu kaufen, eine Plage, die geheilt werden muss und die mittlerweile allen missfällt. Es ist richtig, mit der Kürzung der Mittel zu beginnen, aber gibt es keine anderen Möglichkeiten, die haredische Gesellschaft in Verantwortung zu nehmen, ohne sie zu entstellen, zu verteufeln oder, schlimmer noch, auszubeuten?
Im Idealfall wäre es wünschenswert, den militaristischen Trend des Landes umzukehren und sich für eine friedliche politische Lösung zu entscheiden, die langfristig die Sicherheit aller Bürger tatsächlich garantieren würde, und sei es nur, damit der einzige gemeinsame Nenner der verschiedenen Teile der jüdischen Bevölkerung sich nicht auf die vorhandene Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal der Palästinenser reduziert. Aber das Spiel scheint noch lang zu sein und es ist zu früh, um den Ausgang vorherzusagen.
Die Übersetzerin, Redakteurin und Publizistin Sarah Parenzo lebt seit 20 Jahren in Israel, wo sie mit einer Arbeit über die ethischen und psychoanalytischen Implikationen der Rezeption des Schriftstellers Abraham B. Yehoshua in italienischer Übersetzung promovierte. Sie war Korrespondentin für verschiedene Zeitungen im Bereich Kultur und Außenpolitik und arbeitet seit zehn Jahren mit dem öffentlichen psychiatrischen Rehabilitationsdienst Israels zusammen.
Originaltext auf Italienisch
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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