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- Biografie »Das wilde Leben«
Der Mann, der Uschi Obermaier war
Eine Erzählung aus der Altsteinzeit: Vor 30 Jahren erschien Claudius Seidls »Das wilde Leben« – ein Buch, das eine fremd gewordene Welt beschreibt
Es war ein undankbarer Job. Dass er ihn angenommen hatte, würde er bald schon bereuen. Ein Ghostwriter lebt davon, dass man ihn mit Informationen füttert. Doch die Frau, die ihm ihre Lebensgeschichte erzählen sollte, gab sich wortkarg. »Es gab auf dem Terrain ihrer Erinnerung unermesslich große weiße Flecken«, so beschreibt Claudius Seidl das Grundproblem beim Verfassen der 1994 erschienenen Autobiografie »Das wilde Leben«. Was tun? »Die weißen Flecken mussten also vom Autor beschriftet werden, und als das Buch fertig war, klang es weniger nach Uschi Obermaier als nach meinem Versuch, einen Poptext im Stil der 90er Jahre zu schreiben. (…) Kein Wunder, dass sie sich oft nicht wiedererkannte in diesem Text.«
Macht aber nichts. Denn jenes Buch, das Uschi Obermaier derart irritierte, dass sie sich 2007 genötigt sah, ihr Leben gleich noch mal einem anderen Ghostwriter zu erzählen (diesmal unter dem Titel: »High Times: Mein wildes Leben«), ist der Nick Drake der Literatur – ein Meisterwerk, das 30 Jahre nach seinem Erscheinen endlich entdeckt werden sollte.
Nur mit dem Unterschied, dass sein Autor Claudius Seidl bereits bei der Veröffentlichung von »Das wilde Leben« kein Unbekannter war. Gemeinsam mit seinem Kollegen Michael Althen hatte er bei der »Süddeutschen Zeitung« und bei »Tempo« bewiesen, dass nicht nur das Kino einen klüger und glücklicher machen konnte. Bisweilen genügte es zu lesen, was das Gesehene beim Rezensenten ausgelöst hatte. Wenn Seidl über Filme schrieb, wurde der eigene Kopf zur Projektionsfläche und die Gedanken wechselten ins Breitwandformat. Seine Texte waren keine klassischen Kritiken, sondern Abschweifungen. Das Leinwandgeschehen diente ihm bloß als Aufhänger, die Geschichte hinter der Geschichte zu erzählen. Danach verstand man die Welt und manchmal auch das eigene Leben ein wenig besser. Und weil man solche grundlegenden Dinge nicht nur am Beispiel von Filmen, sondern auch anhand von Platten, Büchern, Fernsehsendungen und Kunst erklären kann, übertrug ihm der »Spiegel« 1990 die Leitung des Ressorts »Populäre Kultur«. Unter dem Titel »Anstiftung zum Bürgerkrieg« brachte er in diesem Frühjahr bei der Edition Tiamat die zweite Sammlung seiner Feuilletontexte heraus.
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Uschi Obermaier schien die ideale Gesprächspartnerin für Claudius Seidl zu sein. Niemand verkörperte (auch im wörtlichen Sinn) populäre Kultur besser als diese Frau, die als Kommune-1-Mitglied, Partnerin von Rainer Langhans, Fotomodell (u. a. bei Helmut Newton) und Geliebte von Jimi Hendrix, Mick Jagger und Keith Richards die Fantasie von Millionen befeuert hatte. Sie stand für das, was im Wirtschaftswunderdeutschland gewaltsam unterdrückt worden war: Freiheit und Selbstbestimmung.
Man kann es natürlich auch mit weniger pathetischen Begriffen ausdrücken: Uschi Obermaier lebte das Leben, das sie leben wollte. Den meisten Mädchen der Adenauer- und Erhard-Jahre blieb dies verwehrt. Die Karriereoptionen lauteten Hausfrau oder Hure. Die eigene Mutter wurde nicht müde, die junge Ursula vor den Gefahren eines liederlichen Lebens, das in der Gosse enden würde, zu warnen. Vielleicht, weil sie in der Lebensgier der Tochter jenen Mann wiedererkannte, der sie verlassen hatte: Uschis Vater.
Es ist ja keine neue Erkenntnis, dass die BRD der 50er und frühen 60er Jahre ein in jeder Hinsicht verklemmtes Land war. Doch zu lesen, was dies konkret bedeutete, musste schon den Menschen des Jahres 1994 wie eine Erzählung aus der Altsteinzeit vorkommen. Ja, da gab es dieses sagenumwobene Schwabing, wo bereits 1962 junge Menschen die Beastie-Boys-Devise »Fight for your right to party« beherzigt und sich tagelange Straßenschlachten mit der Polizei geliefert hatten. Aber schon wenige Kilometer weiter – im Stadtteil Sendling, wo Obermaier ihre Kindheit und Jugend zubrachte – schrumpfte das weltstädtische München auf Kleinbürgergröße.
Uschi Obermaier lebte das Leben, das sie leben wollte.
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Es waren die Jahre vor der sexuellen Revolution und vor den Drogen, die damit einhergingen. Seidls Leistung besteht darin, dass er den allgegenwärtigen Mief, die bedrückende Enge nicht nur beschreibt, sondern auch reflektiert und interpretiert. Auf diese Weise durchläuft Uschi Obermaier eine Metamorphose. Aus dem It-Girl (wie man heute sagen würde) wird eine Intellektuelle. Seidls Obermaier kennt sich selbst und die Welt, in der sie sich bewegte, besser als die reale Obermaier.
Und als sie diese viel zu kleine Welt dann endlich hinter sich lassen konnte, gab es kein Halten mehr. Man wundert sich, wie sie all die Tabletten-, Champagner- und Drogenexzesse, die mit dem Leben unter Kommunarden, Rockstars und Kiezgrößen verbunden waren, überstanden hat. Und man wundert sich nicht, weshalb die Beschreibungen dieser Jahre lückenhaft sind. Zwischen den Zeilen entschuldigt sich Seidl (stellvertretend für Obermaier) dafür, dass die Erinnerungen an das wilde Leben oft fragmentarisch wirken: »Und immer wieder kam eine Nacht, da war so viel Alkohol und Speed im Kopf, dass nachher keiner wusste, ob es eine gute oder eine böse Nacht gewesen war.«
Auf die große Freiheit folgt der noch größere Kater. Als ihr Partner Dieter Bockhorn, der »Prinz von St. Pauli«, an Silvester 1983 sein Motorrad in einen Lkw lenkt, da wird nicht nur ein einzelnes Leben zu Grabe getragen, sondern ein ganzes Lebensgefühl. Die 80er brauchten keine Uschi Obermaier mehr. Das Nachwort ist in der dritten Person verfasst – als müsste ein Bekannter die Leser beschwichtigen, dass Uschi doch noch die Kurve gekriegt hat. So endet ein Buch über die Suche oder auch Sucht nach dem Rausch ziemlich ernüchternd.
Als »Das wilde Leben« 1994 erschien, blieben die Verkaufszahlen hinter den Erwartungen zurück. Was verständlich war. Warum sollte man ein Buch über vergangene Partys lesen, wenn es viel aufregender war, selber zu feiern! Dass die jungen Leute der 90er die Früchte ernteten, die Lebemenschen wie Uschi Obermaier in den 60ern gesät hatten, war ihnen nicht bewusst. Es hätte sie vermutlich auch nicht interessiert.
Mittlerweile sind noch mal 30 Jahre vergangen. Der »Poptext im Stil der 90er« ist selbst zum Zeitdokument geworden. Die Lektüre stimmt einen auf seltsame Weise traurig. Denn die Coolness und Unbekümmertheit, mit der Claudius Seidl Uschi Obermaier über Sex and Drugs and Rock’n’Roll erzählen lässt, wäre heute nicht mehr möglich. Im Zeitalter der Neospießer kommen einem die 90er weiter entfernt vor als die 60er. Schon deshalb lohnt es sich, das Buch in die Hand zu nehmen – als Erinnerung und Mahnung, was verlorengegangen ist.
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