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Berlin: Hotline gegen häusliche Gewalt überlastet
Nur ein Fünftel der Anruferinnen in akuter Gefahr erhält Schutzplatz
»Vielleicht passiert aktuell einfach mehr Gewalt«, sagt Nua Ursprung, Pressesprecherin der Berliner Initiative gegen Gewalt an Frauen (BIG), zu »nd«. BIG betreibt zusammen mit fünf Fachberatungs- und Interventionsstellen die Berliner Hotline gegen häusliche Gewalt und verzeichnete in den Monaten Mai und Juni einen drastischen Anstieg an Anrufen von gewaltbetroffenen Frauen. 895 Anrufe im Mai und 814 Anrufe im April – die Zahlen lägen noch höher als während der Corona-Pandemie. »Die Situation verschärft sich und Arbeitsbedingungen sind für die Mitarbeiter*innen kaum noch tragbar«, sagt Sama Zavaree, Koordinatorin der BIG-Hotline, in einer Pressemitteilung der Initiative.
Es gibt aber noch andere mögliche Ursachen für den Anstieg an Anrufen als einen entsprechenden Anstieg an Gewalt. »Das Thema wird immer mehr öffentlich besprochen und deswegen suchen sich immer mehr Menschen Hilfe«, das ist die hoffnungsvollste Vermutung, die Ursprung für den Anstieg hat. Im Bereich Gewalt an Frauen rechne man mit einem großen Dunkelfeld an Vorfällen, das aber durch die steigende Bekanntheit von Anlaufstellen und die größere öffentliche Debatte um das Thema mehr und mehr ausgeleuchtet werden könne. Ein weiterer möglicher Grund für den Anstieg ist, dass die BIG-Hotline seit Februar dieses Jahres rund um die Uhr erreichbar ist und deshalb nun auch Anrufe in der Nacht entgegengenommen werden.
Dennoch bleibt die Situation dramatisch, denn Frauen, die in akuter Gefahr sind, konnte im Mai und Juni in fast 80 Prozent der Fälle kein Schutzplatz, etwa in einem Frauenhaus, angeboten werden. Im Mai musste laut BIG 427 Anruferinnen mitgeteilt werden, dass kein Platz mehr frei sei. »Es ist schon eine große Hürde, überhaupt bei der Hotline anzurufen und um Unterstützung zu bitten. Wenn dann kein Schutzplatz frei ist, macht das Angst«, sagt Ursprung.
Berlin habe viel zu wenig Schutzplätze, diese seien in der Regel belegt. Gewaltbetroffene, die in einem Frauenhaus unterkommen möchten, müssten dann jeden Tag anrufen und hoffen, dass ein Platz frei geworden ist. Laut Istanbul-Konvention müsste Berlin 963 Schutzplätze zur Verfügung stellen, es gebe aber nur 492, so Ursprung. »Das Problem ist auch der Wohnungsmarkt«, sagt sie. Denn anstatt der vorgesehenen Aufenthaltsdauer von etwa sechs Monaten blieben Frauen und ihre Kinder oft ein Jahr oder länger in den Häusern, weil sie keine Wohnung finden können.
»Die Sommerferien sind gefährlich, weil die Familien da viel mehr Zeit miteinander verbringen.«
Nua Ursprung
Berliner Initiative gegen Gewalt an Frauen
Dass die Zahlen an anrufenden Gewaltbetroffenen im Sommer steige, sei aber durchaus normal, sagt Ursprung. »Die Sommerferien sind gefährlich, weil die Familien da viel mehr Zeit miteinander verbringen.« In den vergangenen Jahren hätte sich das aber vor allem in einem Anstieg an Anrufen nach den Sommerferien gezeigt, wenn es wieder besser möglich ist, alleine zu telefonieren. Dass der Anstieg nun schon vor den Ferien passiert und dazu noch deutlich höher liegt, bereitet der Initiative Sorgen. Es sprächen aber auch Gründe für den Zeitpunkt: Gegebenenfalls wissen Frauen schon, dass es in den Ferien zu mehr Gewalt kommen kann, oder sie halten die Sommerferien für einen geeigneten Zeitpunkt, um mit den Kindern einen Neuanfang zu organisieren.
Fest steht, dass aktuell sehr viele Frauen häusliche Gewalt erfahren und nach Hilfe suchen. Gleichzeitig wurden in Berlin in den vergangenen Wochen auffallend viele Femizide begangen, also Tötungen von Frauen, weil sie Frauen sind. Die Täter sind in der Regel die Partner oder Ex-Partner der Getöteten. Zwischen Ende Mai und Ende Juni wurden in Berlin vier Frauen getötet.
Der Berliner Senat hat bereits im Oktober 2023 einen Aktionsplan zur Umsetzung der Istanbul-Konvention beschlossen. Die Konvention des Europarats ist ein internationales Abkommen mit dem Ziel, Frauen und Mädchen besser vor geschlechtsspezifischer Gewalt zu schützen. Sie wurde 2018 von Deutschland unterzeichnet. Eine kurzfristige Anfrage des »nd« zu Schutzplätzen und dem Anstieg an Hilfegesuchen von Betroffenen häuslicher Gewalt konnte die Senatsverwaltung für Gleichstellung bis Redaktionsschluss nicht beantworten.
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