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Worum man sich kümmern muss
RP Kahl hat aus dem Dokumentartheater »Die Ermittlung« von Peter Weiss einen Kinostoff gemacht
»Die Ermittlung« von Peter Weiss folgt in einem elfteiligen Gerichtsprozess dem Weg der Opfer von der Rampe in Auschwitz bis hin zum Feuerofen. Welchen Fokus haben Sie gesetzt, als Sie sich entschieden haben, sein Dokumentartheater zu verfilmen?
Uns war vor allem wichtig, den Theatertext in einer modernen Form und in einer dem Kino entsprechenden Version zu verfilmen. Dabei war das Stück von Peter Weiss eine perfekte Grundlage für das Drehbuch. In den Text an sich haben wir nicht eingegriffen. Wir haben aber die Anzahl der Schauspielerinnen und Schauspieler, die die Zeugen verkörpern, auf 39 erhöht. Und um daran zu erinnern, dass viele Opfer nichtdeutscher Herkunft waren, kommen mehrere aus der Ukraine, Frankreich, Polen, Ungarn, Tschechien, Russland, den Niederlanden und weiteren Ländern. Sie sprechen alle Deutsch, denn eine Übersetzung würde stören.
Die Kulisse ist extrem reduziert und wird nur durch farbiges Licht und die Anzahl der Zeugenpodeste verändert. Ihr dramaturgisches Rezept, um nicht von den Texten abzulenken?
Ich habe mit verschiedenen Talenten aus unterschiedlichen Sphären gearbeitet. Die Bühnenbildnerin Nina Peller kommt vom Theater, die Maskenbildnerin Kerstin Riek vom klassischen Film, Tina Kloempken macht Kostümbild an der Oper und unser Kameramann, Guido Frenzel, hat eher große TV-Shows in seiner Vita stehen. Wir haben mit acht Kameras in Adlershof gearbeitet, wo normalerweise große Fernseh-Events entstehen und arbeiten mit Studiolicht. Uns war es wichtig, dass die Editoren – Anne Fabini, Christoph Strothjohan und der 2023 verstorbene Peter R. Adam – klassisches Kino machen. All diese Einflüsse spürt man.
RP Kahl (Rolf Peter Kahl) wurde an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Rostock ausgebildet und arbeitete in den 90er Jahren an verschiedenen Theatern. Er wirkte in zahlreichen Film- und Fernsehproduktionen mit. 1995 gründete er »Erdbeermundfilm« und produziert seitdem Spielfilme, Kurzfilme, Musikvideos und Videokunst. Seit 1999 widmete er sich Performances und Videokunst, die in Museen, Galerien und Theatern präsentiert wurden. 2018 wurde Kahl Professor für Film und Schauspiel. Jetzt hat er das Theaterstück »Die Ermittlung. Oratorium in 11 Gesängen« von Peter Weiss verfilmt.
Nach Jonathan Glazers »The Zone of Interest« haben Sie eine ganz eigene Annäherung gefunden, um über Auschwitz zu erzählen.
Jonathan Glazer ist es mit »The Zone of Interest« geglückt, einen zeitgenössischen Ansatz zu finden, der nicht darauf zielt, das Unbeschreibliche zu fiktionalisieren und zu emotionalisieren sowie Bilder zu wiederholen, die wir schon kennen. Er versucht, durch eine andere Erzählung neue Wahrheiten zu erkennen. Im politischen Film kann es eine Möglichkeit sein, schwierige Sachverhalte zu umrunden und zu beschreiben, um so zu neuem Wissen, Erkenntnissen und auch zu einer neuen Lebendigkeit zu kommen. Das spürt man in »Die Ermittlung«. All diejenigen, die vielleicht gar nicht gern ins Theater gehen und sich gar nicht sicher sind, ob sie vier Stunden das Thema durchhalten, sollten unbedingt den Film sehen. Sie werden danach sagen: »Das war wie im Film! Das war emotional, das war spannend und ich habe etwas verstanden, was ich in Lehrbüchern oder in Dokumentationen überhaupt nicht verstanden habe.«
Im Detail beschreiben die Figuren die Folterungs- und Tötungsmethoden. Tom Wlaschiha berichtet beispielsweise als Zeuge 38 über die Abfolge in den Gaskammern.
Das ist ein wahnsinnig starker Moment. Er erzählt in einem mehr als zehnminütigen Dialog – der wie ein Monolog funktioniert – sehr sachlich, was passiert ist und kreiert aus dem Text heraus eine Persona, eine neue Form von Spielweise, die dann eine ganz besondere Energie und Kraft hat und die nicht so einfach wiederholbar ist.
Der Proben- und Produktionsprozess von »Die Ermittlung« dauerte fünf Wochen, gedreht haben Sie an fünf Tagen. Wie haben Sie mit den Schauspielerinnen und Schauspielern zufriedenstellend in dieser kurzen Zeit arbeiten können?
Es gibt sehr emotionale Momente, aber ich will es den Zuschauerinnen und Zuschauern überlassen, zu entscheiden, wann und wie stark der Moment ist. Deshalb war es mir bei allen Schauspielerinnen und Schauspielern wichtig, dass sie sich selbst zurücknehmen und nicht die Emotionalität der Figur erklären, sondern nur den Text sprechen. Ich habe immer gesagt: »Wenn dir daraus als Mensch, als Person eine Emotion erwächst, dann lass es zu.« Das reicht.
Wieso entschieden Sie sich, bei diesem schmerzvollen, mörderischen Sujet Musik zu verwenden?
Auch mit der Musik war es ein Ausprobieren. Im Konzeptpapier stand, dass es gar keine Musik gibt. Auch nicht beim Abspann. Dann hat mir mein Lieblingskomponist Matti Gajek etwas angeboten, das wir sehr sparsam, skizzenhaft in Übergängen und an ausgewählten Stellen eingesetzt haben. Das hilft auch, ein bisschen durchzuatmen und den Gedanken mal fließen zu lassen. Nur die Schlussmusik, in der Beth Gibbons von Portishead Henryk Góreckis »Symphony No. 3« auf Polnisch singt, ist sehr klar gesetzt: Ich finde es total okay, wenn jemand sagt, das ist mir zu dicke. Ich finde es aber ebenso sehr respektabel, wenn die Zuschauerinnen und Zuschauer vier Stunden so ein hartes Werk durchhalten.
Neben der Vier-Stunden-Fassung gibt es eine dreistündige. Das Kino kann selbst entscheiden, welche Fassung gezeigt wird. Worin besteht der Unterschied zwischen der kürzeren und längeren Fassung?
In der kürzeren reduzieren wir auf acht Gesänge. Natürlich verpasst man inhaltlich was, kann aber der Geschichte dennoch gut folgen. Zum Beispiel erzählen wir nicht über das Schicksal einer jungen Frau, deren persönlicher Brief an einen Häftling gefunden wurde. Wenn der Film ins Fernsehen und in die Mediathek kommt, wird es – so wie es gerade angedacht wird – auch eine serielle, elfteilige Fassung geben. Dadurch macht man das Thema einem breiteren Publikum und vor allem jüngeren Menschen zugängig.
Der Film eignet sich auch gut als Schulstoff.
Ja! Unterscharführer Stark, der im sechsten Gesang auftritt, gespielt von Nico Ehrenteit, ist nur ein bisschen älter als die Abiturienten. Er erzählt von seiner Umgebung und erklärt die Systematik hinter all den Handlungen. Stark war zu diesen Taten fähig, ohne dass er ein grundböser Typ von Geburt an war. Man kann sein Handeln mit der eigenen Moral abgleichen und über die eigene Verantwortung nachdenken. Ich meine das nicht didaktisch. Es geht mir einfach darum, dass jeder einzelne Mensch Demokratie, Liberalismus und Rechtsstaatlichkeit nicht als gegeben ansehen sollte, sondern als etwas, worum man sich selbst als Mitglied dieser Gesellschaft kümmern muss.
Axel Sichrovsky, Zeuge 32, ist selbst ein Nachfahre der Überlebenden der Shoah. Er beschreibt die Angeklagten mit »einer Horde von Henkern, die grinsend, geifernd, gelangweilt oder scheinbar gleichgültig auf die eigenen Aussagen reagieren«. Auch andere Mitglieder des Ensembles stammen aus Familien, die Angehörige im Holocaust verloren hatten oder im Glücksfall emigrieren konnten. Wurde am Set darüber gesprochen?
Wir haben am Set nicht darüber gesprochen. Ich habe die Schauspielerinnen und Schauspieler auch nicht in erster Linie aufgrund ihres familiären Hintergrunds ausgesucht. Ich wusste das sogar von einigen nicht. Axel Sichrovsky hatte zum Beispiel weder vor noch während der Dreharbeiten verbalisiert, warum ihm die Arbeit an »Die Ermittlung« so wichtig ist. Ich habe das im Nachgang erfahren und verstanden, warum ihm die erzählte Geschichte besonders nahe gegangen ist.
Ich wollte die Geschichte auch nicht in der Vergangenheit enden lassen. Zum Schluss verlassen wir den artifiziell inszenierten Gerichtsraum und zeigen ein paar Bilder aus der Gedenksstätte Auschwitz. Man sieht dort Jugendgruppen herumlaufen, das soll dem Ganzen eine Art Hoffnung für die Zukunft geben. Und es hat mich selbst sehr bewegt, als ich gesehen habe, wie eine Klasse aus Deutschland mit Schülerinnen und Schülern aus den unterschiedlichsten Nationalitäten dort Kerzen angezündet hat.
»Die Ermittlung«: Deutschland 2024. Regie: RP Kahl. Mit: Rainer Bock, Clemens Schick, Bernhard Schütz, Arno Frisch, Thomas Dehler, Sabine Timoteo, Christiane Paul, Barbara Philipp, Tom Wlaschiha, u. v. m. 240 Min./186 Min. Kinostart: 25. Juli.
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