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Trau keinem unter 80
Die US-Spitzenpolitik ist so alt wie nie. Über die Machtarithmetik in den Parteien und die schwelende Hegemoniekrise des Establishments
Vergleiche mit der späten Sowjetunion drängen sich auf: Die politische Kaste der USA altert rapide, das Land wird zur Gerontokratie. Der wohl nicht ganz freiwillige Rückzug von Amtsinhaber Joe Biden aus dem Präsidentschaftswahlkampf nach seiner verheerenden Fernsehdebatte hat erneut ein Schlaglicht auf diese Entwicklung geworfen: Bidens Mitarbeiterstab tat seine sichtlich abnehmenden geistigen Kräfte lange als »Sprachfehler« ab. Doch nach Bidens Auftritt bei der Debatte Ende Juni zogen der Fraktionsvorsitzende der Demokraten im Senat, Chuck Schumer, sowie die Ex-Fraktionschefin im Repräsentantenhaus, Nancy Pelosi, die Reißleine. Sie überzeugten den Präsidenten – beziehungsweise seine Familie und seinen engsten Mitarbeiterstab –, die Führung der Partei und die Kandidatur um das Weiße Haus in geordneter Weise an Vizepräsidentin Kamala Harris zu übergeben.
Doch die Personalien Schumer (73 Jahre alt) und Pelosi (84) könnten selbst als Beispiele dafür herhalten, dass die Spitzenpositionen der US-Politik in der Ära Trump und Biden überdurchschnittlich den eher Betagten vorbehalten sind. Die Überalterung der US-amerikanischen Politik in den 20er Jahren des 21. Jahrhunderts ist allerdings keine Zufallserscheinung. Es gibt eine ganze Reihe von Gründen – handfeste strukturelle, wie auch weniger greifbare kulturelle –, warum die politische Kaste der USA gerade jetzt vergreist.
Beginnen wir mit der schnöden Machtpolitik: Die Fraktionen der Demokratischen Partei im Senat und Repräsentantenhaus vergeben Posten noch immer weitestgehend nach dem Senioritätsprinzip. Das heißt: Wer am längsten dabei ist, hat die erste Wahl, was etwa die Entsendung in besonders wichtige Ausschüsse angeht. Bei den Republikanern spielt das Senioritätsprinzip zwar eine etwas untergeordnetere Rolle, doch auch hier haben Figuren wie die Senatoren Mitch McConnell (82) oder Chuck Grassley (90), seit Jahrzehnten Machtzentren in der Fraktion, enormen Einfluss.
Amtsinhaber haben so ein gewichtiges Argument, warum sie die Interessen ihrer Wähler besser vertreten können als Herausforderer, insbesondere bei parteiinternen Vorwahlen. Sie können durch ihre Ausschussposten etwa besonders viele Investitionen in ihre Bundesstaaten und Wahlkreise lenken. Der medizinische Fortschritt und die immer strenger durchgeplante Öffentlichkeitsarbeit der US-Spitzenpolitikerinnen und -politiker machen es möglich, dass diese über Jahrzehnte an den einmal gewonnenen Posten kleben, auch wenn sie ihnen geistig eigentlich nicht mehr gewachsen sind.
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Ein zweiter struktureller Grund dafür, dass die politische Elite der USA nur äußerst spät und zögerlich in Rente geht, besteht darin, dass ihre Netzwerke der Kaste der politischen Großspenderinnen und -spender sehr viel Geld wert sind: Die US-Parteien sind komplexe, milieu- und klassenübergreifende Koalitionen, die zudem über wenig formale institutionelle Macht und Koordinationsfähigkeit verfügen. Sie zusammenzuhalten erfordert die jahrzehntelange Pflege von Beziehungen, die einen informellen Interessenausgleich zwischen den verschiedenen Teilen der jeweiligen Bündnisse ermöglichen. Alte Politikerinnen sind auch hier im Vorteil.
Doch auch auf kultureller Ebene kämpfen jüngere US-Politikerinnen und -politiker derzeit mit Problemen, die ihre Kolleginnen und Kollegen im Seniorenalter größtenteils umgehen können. Angehörige der Generation von Trumps frisch gekürtem Vizepräsidentschaftskandidaten J.D. Vance (39), aber auch die etwas Älteren der Generation X wie Harris (59) tun sich besonders schwer mit Authentizität und übertreiben es mit der Selbstdarstellung, auch unter identitätspolitischen Gesichtspunkten. Die Wählerinnen schreckt das eher ab.
So wird seit der Nominierung von Vance dessen Affinität für rechtes Kulturkampfmaterial aus dem Internet zum Problem für die Republikaner. Insbesondere Vances Begeisterung für Online-Antifeminismus, der bisweilen in offene Misogynie umschlägt, sorgt für Negativschlagzeilen.
Vance ist unter anderem besessen von dem angeblich existenziellen Problem, das die fallende Geburtenrate für die USA darstellt. Die Rolle von Frauen sieht er vor allem im Haushalt und in der Erziehung ihrer eigenen Kinder. In seiner Rhetorik ist dies die gesellschaftliche Normalität – aber auch wirklich nur dort. Dass ein Ehepartner – zumeist die Partnerin – vollständig zu Hause bleibt, kann sich in den USA nur ein kleiner Teil der oberen Mittelklasse überhaupt leisten. Praktisch alle anderen Haushalte sind zumindest auf ein zweites Teilzeiteinkommen angewiesen. Die Scheidungsrate liegt bei über 40 Prozent, Patchwork-Familien sind eine alltägliche Selbstverständlichkeit – auch in konservativen Landesteilen.
Dies hielt Vance nicht davon ab, Harris als »kinderlose Katzenlady« zu beschimpfen, die kein »direktes Interesse« an der Zukunft des Landes habe. Harris ist die Stiefmutter der Kinder ihres Ehemanns. Welche Wechselwählerinnen Vance mit diesen Ausfällen erreichen will, bleibt schleierhaft. Auch bezeichnete er die Forderung nach kostenloser Kinderbetreuung – die horrenden Preise für Kitas sind eine schwere ökonomische Fessel, gerade für die US-Arbeiterklasse – als Subvention für den »präferierten Lebensstil« einer Minderheit. Dies hat mit der gesellschaftlichen Realität in den USA ebenfalls nichts zu tun.
Vance in gutes Beispiel dafür, dass ein junges Alter keine Garantie für fortschrittliche Einstellungen sein muss.
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So ist Vance ein gutes Beispiel dafür, dass ein (gemessen am Durchschnitt im Senat) relativ junges Alter keine Garantie für fortschrittliche Einstellungen sein muss. Auf Seite der Demokraten ergibt sich eine Art Spiegelbild dieser Problematik: Politikerinnen und Politiker der jüngeren Generationen werfen sich auch hier mit vollem Elan in den Kulturkampf und unterstreichen häufig vor allem Identitätsfragen, um eine gewisse inhaltliche Beliebigkeit zu überdecken.
Harris selbst hat diese Strategie bei ihrer Präsidentschaftskandidatur von 2020 auf die Spitze getrieben. Ihre politische Karriere begann als Staatsanwältin in Kalifornien, wo sie sich durch ihre harte Gangart zu profilieren suchte. Doch nach dem Polizeimord an George Floyd und dem Wiederaufflammen der Black-Lives-Matter-Proteste im Sommer 2020 wurde aus »Copmala« Harris Amerikas oberste Bürgerrechtlerin, die ihren afrokaribisch-indischen Familienhintergrund insbesondere gegen ihre parteiinternen Kontrahenten bei den Vorwahlen der Demokraten als Alleinstellungsmerkmal stark hervorhob. Was etwa die Angehörigen eines afroamerikanischen Jugendlichen, der wegen eines ihm – zu Recht oder zu Unrecht – unterstellten Bagatellvergehens monatelang in Untersuchungshaft sitzt, weil sich die Familie weder die horrende Kautionssumme noch einen teuren Strafverteidiger leisten kann, von alledem halten soll, bleibt schleierhaft.
Vances politische Karriere ist von einer ähnlichen Beliebigkeit und vom zynischen Manövrieren mit der eigenen Identität geprägt. In seinem Buch »Hillbilly-Elegie« blickte der ehemalige Marineinfanterist Vance noch mit mitleidiger Herablassung auf die verarmte ländliche Arbeiterklasse, aus der er stammt. Auch für Donald Trump hatte er einst nur Verachtung übrig. Doch nachdem dieser seine Hegemonie über die republikanische Partei verfestigt hatte, hängte Vance sein rot-weiß-blaues Fähnchen nach dem politischen Wind und wurde praktisch über Nacht zum glühenden Nationalisten und Trump-Fanatiker.
Den meisten Wählerinnen und Wählern geht eine solche sehr durchschaubare Selbstvermarktung gegen den Strich – auch deshalb haben es ältere Politikerinnen und Politiker in den USA leichter. Sie stehen unter weniger Druck, jede kulturelle Wende sofort vollumfänglich mitzumachen und selbst mit voranzutreiben. Damit eignen sie sich besser als Projektionsfläche für eine zunehmend diverse US-Öffentlichkeit und ihre gesellschaftspolitischen Präferenzen: Politikerinnen und Politiker aus der Generation von Biden und Trump verkörpern auch ein Amerika, das kulturell – bezogen auf die Mehrheitsgesellschaft – homogener und lesbarer war. Das macht es ihnen leichter, das Vertrauen von Wählerinnen und Wählern zu gewinnen.
Vorurteile gegen alte Menschen halten einer Überprüfung kaum stand – denn Menschen altern sehr unterschiedlich, körperlich wie geistig. Bernie Sanders, eine der fortschrittlichsten Stimmen in der US-Spitzenpolitik, ist selbst 82 Jahre alt und kandidiert im November erneut für den Senat in Vermont. Die Präsenz von alten Menschen in der Politik ist kein Problem per se, sie ist wünschenswert und zu begrüßen. Für die Linke wäre es ohnehin ein Fehler, den Klassenkampf gegen einen Generationenkrieg einzutauschen – der Jugendkult der 68er-Generation erweist sich im Nachhinein als schwere Fehleineinschätzung. So sagt die Überalterung der US-Politik mehr über die Hegemoniekrise der US-amerikanischen Demokratie und die schwindende Integrationskraft ihrer großen Parteien aus als über alte Menschen an sich.
Mit ihren fast 60 Jahren läge die voraussichtlich nächste US-Präsidentschaftskandidatin der Demokraten, Kamala Harris, leicht über dem US-Präsidenten-Durchschnitt, Donald Trump mit 78 Jahren sogar deutlich darüber. Laut dem Institut Pew Research Center waren in der US-Geschichte Präsidenten bei ihrem Amtsantritt im Mittel 55 Jahre alt. Der jüngste war mit 42 Jahren Theodore Roosevelt 1901, der älteste Joe Biden, der 2021 78 Jahre alt war. Allerdings betrug die durchschnittliche Lebenserwartung zu Roosevelts Zeit lediglich 47 Jahre, inzwischen liegt sie bei 79 – und wohlhabende Menschen, zu denen US-Präsidenten gehören, leben ohnehin länger als arme.
Alt ist Trump auch gemessen an der Tatsache, dass er zum zweiten Mal als Kandidat antritt. Im Mittel waren US-Präsidenten bei ihrer zweiten Amtseinführung 20 Jahre jünger als Trump heute.
Zwar ist Joe Biden der älteste Präsident der US-Geschichte. Im globalen Vergleich steht er aber nur an Nummer Neun, so Pew Research nach einer Analyse der Staatsoberhäupter aller 187 UN-Mitgliedstaaten am 1. Mai 2024. Wird Trump im November gewählt, gehört er immerhin zu den 20 ältesten Staatenlenkern der Welt. Kamala Harris läge etwas unter dem globalen Durchschnitt, der für Staatsoberhäupter – Frauen wie Männer – bei 62 Jahren liegt. Die Jüngsten sind mit 36 Jahren Ibrahim Traoré (Burkina Faso), Daniel Noboa (Ecuador) und Milojko Spajić (Montenegro). Jüngste Frau an der Staatsspitze ist Dänemarks Premierministerin Mette Frederiksen (46). Das älteste Staatsoberhaupt der Welt wiederum ist Paul Biya, der 1933 geboren wurde und seit 40 Jahren Kamerun regiert.
Weitere Ergebnisse der Pew Studie: In vom Institut Freedom House als »unfrei« klassifizierten Staaten sind die Staatsoberhäupter meist älter (Durchschnitt 68 Jahre) als in »freien« Ländern (Durchschnitt 60 Jahre). Und in fast allen Ländern ist das Staatsoberhaupt deutlich älter als der Durchschnitt der Bevölkerung. So auch in den USA, wo das Durchschnittsalter 38 beträgt. Tatsächlich gibt es nur drei Länder auf der Welt, in denen der/die Regierende jünger ist als der Durchschnitt der Regierten: Montenegro, Irland und Italien. kau
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