- Politik
- Frauenrechtsaktivistin
Syrien: »Ich kämpfe für alle Frauen«
Die drusische Frauenrechtsaktivistin Najwa Al-Tawil über Syrien nach dem Sturz von Assad
Wie sind Sie zu einer politischen Aktivistin geworden?
Als ich 14 Jahre alt war, nahm ich an meiner ersten Demonstration gegen das Regime von Hafez Al-Assad in Shahba im Gouvernement Suweida teil. Mein soziales Engagement setzte sich bis zur syrischen Revolution 2011 fort, die ein Hoffnungsschimmer war und alle, die Freiheit und Würde wollten, dazu brachte, zu schreien, zu kämpfen und das tyrannische Regime abzuschütteln. Als Drusin aus Syrien kämpfe ich für alle Frauen, unabhängig von Herkunft, Kultur oder Religion, und träume von einem Land, das die Menschenrechte aller Gemeinschaften und insbesondere die Rechte der Frauen garantiert.
Ist ein solches Syrien mit islamistischen Kräften wie der protürkischen Syrischen Nationalarmee (SNA) oder den neuen Machthabern der islamistischen Hayat Tahrir Al-Sham (HTS) überhaupt möglich?
Die Präsenz dieser bewaffneten religiös-extremistischen Gruppen ist besorgniserregend. Wir haben zahlreiche Übergriffe und Gewalttaten gegen Andersdenkende beobachtet. Diese Gruppen haben Verbrechen gegen andere Gemeinschaften begangen und rufen offen zu Gewalt gegen Menschen auf, die nicht ihren extremistischen Vorstellungen entsprechen. Sie betrachten Andersdenkende als »Ungläubige«, die bekämpft werden müssen. Gleichzeitig hat ihr Einfluss seit dem Sturz Assads abgenommen und interne Kämpfe nehmen zu. Die Opfer, die die Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) und die Menschen im Nordosten Syriens im Kampf gegen den IS gebracht haben, um Syrien vor dem Terrorismus zu schützen, sind unvergessen. Sie kämpfen weiter gegen die SNA, die das Leben vieler Syrer, insbesondere der Frauen, bedroht. Wir befürchten, dass unser jahrelanger Kampf, Syrien zu einem Land der Bürgerrechte, der Freiheiten und der Würde zu machen, die uns unter dem vorherigen Regime vorenthalten wurden, nicht zu Ende ist. Wir befürchten, dass Syrien von einer politischen zu einer religiösen Tyrannei wird, aber wir werden nicht aufgeben.
Najwa Al-Tawil stammt aus Suweida, ist Aktivistin und Frauenrechtlerin. Die 52-Jährige hat einen Bachelor in Arabischer Sprache und ein Diplom in pädagogischer Rehabilitation sowie ein Jurastudium absolviert.
Welche Rolle spielen Frauen in der aktuellen politischen Situation?
Die Stimme der syrischen Frauen hat im Laufe der Geschichte, einschließlich der Revolution von 2011, bis heute nicht an Bedeutung verloren. Sie haben sich im Kampf gegen Tyrannei und Terrorismus bewährt und setzen sich aktiv für Gerechtigkeit in Politik und Gesellschaft ein. Trotz Verhaftungen und Druck sind sie ihrer Mission treu geblieben. Frauen sind das Fundament der Revolutionen für Freiheit und Würde. In Suweida haben Frauen während der Proteste 2023 zur Deeskalation der Gewalt beigetragen. Syrische Frauen werden sich nicht mit ihrer Marginalisierung abfinden und weiterhin ihre Anerkennung in allen politischen Prozessen einfordern.
Wie arbeiten Sie mit anderen ethnischen und religiösen Gruppen in Syrien zusammen, um gemeinsame Ziele zu erreichen?
Als syrische Frauen arbeiten wir mit allen Gemeinschaften zusammen, denn wir sind Verbündete in unserem Kampf für ein freies, unabhängiges, demokratisches und pluralistisches Syrien. Unser Ziel ist es, Brücken des Vertrauens zwischen allen Regionen Syriens zu bauen, unabhängig von ihrer Zusammensetzung und der Herkunft ihrer Bewohner. Wir setzen uns für sozialen Zusammenhalt und Frieden ein, sei es durch Begegnung, Dialog oder Vernetzung im Rahmen unserer zivilgesellschaftlichen, politischen und feministischen Aktivitäten.
Was verstehen Sie unter einem »demokratischen und pluralistischen Syrien« – und welche Schritte sind dafür notwendig?
Wir verstehen darunter, dass alle Teile des syrischen Volkes, unabhängig von Religion, Nationalität und Kultur, also Frauen, Männer und Jugendliche, die Freiheit und Würde haben sollten, sich zu artikulieren und sich aktiv am Aufbau des zukünftigen Syriens zu beteiligen. Dies sollte im Rahmen einer säkularen und demokratischen Verfassung geschehen, die die Rechte aller garantiert, ohne dass eine Gruppe eine andere benachteiligt. Frauen müssen echte Partnerinnen bei der Gestaltung der Zukunft Syriens sein, um Gleichberechtigung zu erreichen. In Bezug auf das Selbstverwaltungsmodell in Nord- und Ostsyrien schätze ich die Beteiligung von Frauen an der Verwaltung sehr. Es handelt sich um eine bahnbrechende und wichtige Erfahrung, die für Syrien neu ist und ständig evaluiert und weiterentwickelt wird, um das Beste zu erreichen. Es ist möglich, dass dieses Modell oder eine ähnliche Form der Verwaltung geeignet ist, unser Ziel zu erreichen.
Welche Botschaft möchten Sie jungen Frauen mit auf den Weg geben, die sich innerhalb oder außerhalb Syriens für Veränderungen einsetzen wollen?
Ich möchte die jungen Frauen ermutigen, trotz aller Schwierigkeiten und Herausforderungen weiterzukämpfen und ihren Willen durchzusetzen, indem sie sich auf die Erfahrungen der syrischen Frauen in der Vergangenheit stützen. Lernt aus ihren Fehlern, um sie in eurem eigenen Kampf zu vermeiden. Achtet auf Solidarität, Mobilisierung und kollektives Handeln, setzt euch für Veränderungen ein, die eure Rechte und euren Schutz als Mitstreiterinnen in allen Lebensbereichen garantieren. Die Erfolge der syrischen Frauen in einem patriarchalischen und repressiven System sind hart erkämpft, und sie haben trotz widriger Umstände bedeutende Fortschritte erzielt.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.