- Kommentare
- Digital-Offensiven
Digitales Pflaster
Wenn die Infrastruktur kaputtgespart ist, nutzt auch der neue Online-Service nichts, weiß Anne Roth
»Leider konnten wir keinen Termin für Sie vereinbaren«, schrieb mir der Terminservice meiner Krankenkasse vor ein paar Tagen.
Ich hatte eine Überweisung einer Fachärztin für eine ambulante Untersuchung im Krankenhaus – plus Empfehlung, welches es sein sollte. Als ich dort anrief, wurde ich gefragt, ob ich privat versichert sei, und als ich verneinte, gab es einen Termin im November. Kann ja nicht sein, dachte ich und erinnerte mich, dass meine Kasse gelegentlich freundlich darauf hinweist, dass sie superpraktische digitale Services anbietet, darunter einen, der Fachärzt*innen-Termine findet. »Nutzen Sie unseren Online-Service!«
Anne Roth gehört zu den Pionierinnen linker Netzpolitik. Für »nd« schreibt sie jeden ersten Montag im Monat über digitale Grundrechte und feministische Perspektiven auf Technik.
Gesagt, getan. Ich mag digitale Angebote: Ich muss nirgends hin, kein stundenlanges Warten in Telefonschleifen, und ich muss mit niemandem reden. Vorsichtshalber hatte ich im Terminformular angegeben, dass ich für so eine Untersuchung nicht nur in Berlin überall hinführe, sondern bis zu 50 Kilometer drumherum, um auf der sicheren Seite zu sein. Es gibt über 100 Krankenhäuser in Berlin, da würde sich was finden, dachte ich.
Pustekuchen. In der Hauptstadt eines der entwickeltsten Länder der Welt gibt es zwar allerhand digitale Services, aber eine kleine Lücke in der Gesundheitsversorgung. Wenn ich Fragen habe, könne ich mich noch mal melden, stand in der Mail vom Terminservice. »Wir sind gern für Sie da.« Ich schrieb hin und erfuhr, dass ich selbst bei einem anderen Krankenhaus, dem Uni-Klinikum XY, nachfragen könne. Ergebnis: Einen Termin dort könnte ich im Januar 2025 haben.
Meine Kasse wird von Jahr zu Jahr digitaler: Ich kann Krankenscheine hochladen, Bonuspunkte sammeln (leider verfallen die nach einem Jahr, da wäre ein digitaler Warn-Service praktisch) oder Fitness-Apps ausprobieren. Und eben Fachärzt*innen-Termine buchen lassen – wenn es welche gäbe. Vielleicht wäre es besser, wenn die Kassen ihre Energie darauf konzentrierten, die Gesundheitsversorgung zu verbessern. Dann bräuchte ich auch keinen Service, der zu nichts führt.
Dass digitale Tools und Apps Probleme lösen sollen, die kein bisschen digital sind, gibt es gerade wieder an jeder Straßenecke zu sehen. Der Berliner Regierende Bürgermeister Kai Wegner bestritt seinen Wahlkampf mit der Losung, dass in Berlin endlich alles funktionieren sollte. Dass es keine Termine in Bürgerämtern gibt – ein Problem, über das der Rest der Republik so lacht wie ganz Europa über die Deutsche Bahn –, sollte irgendwie digital gelöst werden. Zwei Wochen nur noch sollte die Wartezeit schon Ende 2023 dauern, aber, naja, das ging schief. Kürzlich musste Wegner konstatieren: »Wir haben das 14-Tage-Ziel noch nicht bis Ende 2023 erreichen können.« Noch nicht. Vielleicht will er das ja noch schaffen, aber im Sommer 2024 jedenfalls gibt es Termine weder digital noch analog. Während ich dies schreibe, erklärt mir die berlinweite Suche nach einem Termin für die Beantragung eines Personalausweises: »Leider sind aktuell keine Termine für ihre Auswahl verfügbar.«
Wo das Personal für die Ämter fehlt, hilft auch keine schönere Website.
Ebenfalls sportlich auf mehr Digitalisierung setzt die Postbank und kündigt an, dass es in Berlin künftig nur noch 20 Filialen geben soll, davon nur noch fünf mit den gewohnten Post-Dienstleistungen. Die Postbank soll zu einer »Mobile-First-Bank« werden. Ich kenne nicht viele Menschen, die ohne nachzudenken erklären können, wie viele Passwörter, Einmal-Nummern oder Spezial-Sicherheits-Apps sie gebraucht haben, um ihr Online-Banking einzurichten. Die meisten segeln irgendwie durch das Verfahren und hoffen, dass alles gut geht. Dass das keine gute Grundlage für den sicheren Umgang mit Geld ist, ist klar, aber wird schon, die Bank schreibt ja, dass wir das so machen sollen. Meistens geht es vermutlich auch gut, aber hier liegt einer der Gründe, warum es auch allerhand Leute gibt, die lieber einen Bogen ums Online-Banking machen. Dazu kommen jene, die die dafür nötigen Geräte gar nicht haben.
Weil es für die Postbank billiger ist, einfach keine Filialen zu unterhalten, setzt sie auf das Prinzip »Wer nicht hören will, muss fühlen«. Warum wird nicht endlich ein verständliches und nachvollziehbares System entwickelt, das für alle Banken dasselbe ist? Ich bin überzeugt, dass sich Menschen eher auf neue, digitale Methoden einließen, wenn sie gut erklärt würden und weniger verwirrend wären, aber die Postbank setzt lieber auf Pädagogik aus dem letzten Jahrhundert: Wenn die Leute nicht freiwillig mitmachen, müssen sie eben gezwungen werden. Es sei ja zu ihrem Besten, irgendwann werden sie schon erkennen, dass es digital einfach besser geht. In diesem Fall vermutlich der Bank. Wenn es keine Überweisungsautomaten mehr gibt, bleibt den Postbank-Kund*innen ja nichts anderes übrig, als es irgendwie online hinzukriegen.
Diese Erzählung findet sich ziemlich häufig: Digital ist besser, und wer nicht mitmacht, ist zu alt oder unmodern. Dabei könnten digitale Hilfsmittel ganz großartig sein – wenn es gut durchdachte, sichere und leicht verständliche digitale Methoden gäbe, deren Ziel es ist, uns den Alltag zu erleichtern. Alt und unmodern ist die Methode, Menschen zu etwas zu zwingen, was sie nicht verstehen.
Bei der Postbank liegt das Problem ein bisschen anders als bei Krankenhäusern oder Bürgerämtern: Im einen Fall ist die App ok, kann aber die fehlenden Angebote nicht ersetzen, im anderen versteht niemand, wie Online-Banking funktioniert, was bei einigen zu Verweigerung führt. So oder so aber wird das, was digital ersetzt wird, aus Kostengründen zusammengestrichen.
Digitalisierung ist viel zu oft eine schlechte App, die wie ein Pflaster auf ganz andere Probleme geklebt wird, die entstehen, weil die notwendige Infrastruktur zum Funktionieren einer Gesellschaft kaputtgespart wird. Ein Digitalisierungsproblem ist das allerdings nicht.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.