Vorratsdatenspeicherung: Zwei Schritte vor, einer zurück

Rot-Grün spricht über die Einführung einer Vorratsdatenspeicherung – ein Beispiel für Wahlkampfkommunikation, glaubt Anne Roth

Nach jedem Anschlag fordern Law-and-Order-Politiker mehr Kompetenzen und Personal für die Polizei. Gewalt wird dadurch allerdings nicht verhindert.
Nach jedem Anschlag fordern Law-and-Order-Politiker mehr Kompetenzen und Personal für die Polizei. Gewalt wird dadurch allerdings nicht verhindert.

Wenn ich die Debatten über Vorratsdatenspeicherung (VDS) mit einem Bild darstellen müsste, wären darauf wahrscheinlich Menschen beim Tauziehen zu sehen. Vor gut 17 Jahren, im November 2007, wurde das erste Gesetz dazu verabschiedet, wenige Wochen darauf gab es die erste Verfassungsbeschwerde dagegen, und zwei Jahre später erklärte das Bundesverfassungsgericht die anlasslose Speicherung von Telekommunikationsdaten der gesamten Bevölkerung auf Vorrat samt Möglichkeit der Nutzung durch die Polizei für illegal. Seitdem zerren Polizei, Innenministerien und sonstige Freund*innen der Law-and-Order-Politik in die eine Richtung und alle, die was von Grundrechten oder IT-Sicherheit verstehen, in die andere. So geht das jetzt seit vielen Jahren.

Anne Roth

Anne Roth gehört zu den Pionierinnen linker Netzpolitik. Für »nd« schreibt sie jeden ersten Montag im Monat über digitale Grundrechte und feministische Perspektiven auf Technik.

Die letzte Episode begann mit einer Aussage der Sprecherin der Bundesregierung in der Bundespressekonferenz am 30. Dezember anlässlich verschiedener Gremiensitzungen des Bundestages nach dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt in Magdeburg. Gefragt danach, ob das nach dem Anschlag in Solingen vorgelegte ›Sicherheitspaket‹ in Magdeburg etwas hätte verhindern können, erklärte sie, dass der Bundeskanzler der Meinung sei, dass die Sicherheitsbehörden mehr Kompetenzen bräuchten. So weit, so erwartbar. Wenn in diesem Land irgendwas passiert, ist die logische Folge, dass Sicherheitsbehörden mehr Kompetenzen brauchen oder mehr Personal oder beides. In diesem Zusammenhang erklärte die Regierungssprecherin dann aber auch, dass es »um die rechtssichere Speicherpflicht von IP-Adressen« gehe, und das war ziemlich unerwartet. Auch die Speicherung von IP-Adressen auf Vorrat fällt unter den Begriff Vorratsdatenspeicherung und wurde 2022 vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) in einem Urteil zur deutschen VDS verboten, wenn sie massenhaft und anlasslos vorgeschrieben wird. Möglich sei aber die Verpflichtung zur Speicherung solcher Daten, wenn das zeitlich befristet und aus bestimmten Anlässen passiere.

Die Ampel war sich bei diesem Thema nicht einig: Die SPD war dafür, FDP und Grüne waren dagegen. Und nun, sozusagen fast unbemerkt im Trubel um den Anschlag und kurz vor Silvester: »Die Speicherung von IP-Adressen ist im Kampf gegen Kriminalität und Terrorismus von entscheidender Bedeutung. Die Bundesregierung wäre bereit, diese einzuführen

Das geht, wie gesagt, schon sehr lange hin und her. Es gab so viele Gerichtsentscheide, Gutachten und akademische Arbeiten zum Thema, dass nur wenige Spezialist*innen aus dem Stand erklären können, was aktuell erlaubt und was verboten ist. Das zeigt sich auch schön bei der Interpretation des Ampel-Koalitionsvertrags, in dem es wörtlich hieß » ... werden wir die Regelungen zur Vorratsdatenspeicherung so ausgestalten, dass Daten rechtssicher anlassbezogen und durch richterlichen Beschluss gespeichert werden können.« Für manche bedeutete das, dass die Ampel sich klar gegen die VDS ausgesprochen hatte, und für andere das genaue Gegenteil. Dabei ist es eigentlich recht einfach: Der Unterschied ist, ob anlasslos und massenhaft auf Vorrat gespeichert wird oder aber mit Anlass und richterlichem Beschluss. Direkt danach wird es kompliziert. Denn wenn der Anlass so breit ist, wie das EuGH-Urteil vorgibt, nämlich zum »Schutz der nationalen Sicherheit, zur Bekämpfung schwerer Kriminalität und zur Verhütung schwerer Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit«, dann ist auch mit so einem Anlass erwartbar, dass das, was dann gespeichert wird, mit »massenhaft« korrekt beschrieben wird.

Manche erinnern sich vielleicht an den NSA-Untersuchungsausschuss des Bundestages 2014 – 2017. Da war eine zentrale Auseinandersetzung zwischen Regierung und Opposition, ob die Überwachung der digitalen Kommunikation durch die Geheimdienste als »massenhaft und anlasslos« definiert werden konnte. Für die damalige Große Koalition war der Anlass »Terrorismusbekämpfung« ausreichend präzise, um die Speicherung von Millionen von Kommunikationsdaten akzeptabel zu finden.

Dass Sicherheitsbehörden schon mit weit weniger vorhandenen Daten nicht in der Lage sind, Anschläge zu verhindern, wurde in Magdeburg gerade furchtbar deutlich.

Nach der Aussage der Regierungssprecherin brach in den sozialen Medien ein kleiner netzpolitischer Sturm los.

Zurück zur Aussage der Regierungssprecherin. Nachdem die bestätigt hatte, dass die – derzeit rot-grüne – Bundesregierung »bereit wäre« die rechtssichere Speicherpflicht von IP-Adressen einzuführen, schrieb das IT-Nachrichtenportal ›heise online‹: »Nach Magdeburg: Bundesregierung will Vorratsdatenspeicherung«. In den sozialen Medien brach ein kleiner netzpolitischer Sturm los. Immerhin waren die Grünen noch Anfang Dezember deutlich gegen die IP-Adressen-Speicherung auf Vorrat gewesen, während die SPD daraufhin nonchalant andeutete, dass es ja auch andere Mehrheiten gebe. Parallel fand der 38. Congress des Chaos Computer Clubs mit ca. 15 000 Teilnehmer*innen statt, und viele von denen, die sich für netzpolitische Themen interessieren, hatten nicht zwischen den Jahren ihre Geräte beiseite gelegt, sondern waren im Gegenteil sehr aktiv online unterwegs.

Zahlreiche Grüne unterstellten dem Autor des Artikels das Verbreiten von Falschinformationen. Es könne ja gar nicht sein, dass eine solche Einigung stattgefunden habe, die Ablehnung der VDS stünde schließlich im Wahlprogramm der Grünen! Nie würde die Bundestagsfraktion diesem Vorschlag zustimmen. Manche verwiesen auf grüne Bundestagsabgeordnete im Innenausschuss oder die grüne Umweltministerin, die von nichts wusste, und sahen das als Beleg dafür an, dass es eine solche Meinungsänderung der Bundesregierung nicht gegeben haben könne. Konnte es sein, dass die SPD über die Erklärung der Regierungssprecherin Tatsachen schafft? Nachdem diese Sprecherin von den Grünen benannt worden war und also auf deren ›Ticket‹ Regierungspolitik kommuniziert, eher unwahrscheinlich.

Ein Coup der grünen Sicherheits-Hardliner*innen? Nach allem, was die Grünen in den vergangenen drei Jahren »mit Bauchschmerzen« mitgemacht haben, gibt es nur wenig, was da nicht vorstellbar wäre. Die ehemaligen Sprecher*innen der Grünen Jugend können ein Lied davon singen. Zudem auch in diesem Wahlkamp die schwarz-grüne Regierungsoption gepäppelt werden muss.

Insgesamt war es eine lehrreiche Veranstaltung zu politischer Kommunikation im Wahlkampf. Eine Regierungssprecherin verkündet etwas, das nur scheinbar klar ist, aber letztlich unterschiedlich interpretiert werden kann. Das kann ein Versehen sein, aber genauso gut auch Absicht, um entweder Meinungsverschiedenheiten der Koalition zu kaschieren oder um zu testen, wie die Reaktionen ausfallen. Wir erinnern uns an die »Offene-Feldschlacht-Pyramide« der FDP.: Thema setzen, pushen, Meinung machen.

Es folgten Medienberichte, und interessant war, was dann in den sozialen Medien passierte: Grüne oder Grünen-nahe Nutzer*innen zeigen in alle möglichen Richtungen, um vom eigentlichen Problem abzulenken. Das Problem: Die Aussage der Regierungssprecherin. Die Richtungen: grüne Positionen in der Partei, im Programm, in der Fraktion, von anderen Kabinettsmitgliedern (die mit dem Thema nicht befasst sind). Die Fassungslosigkeit der netzpolitisch engagierten Grünen ist durchaus nachvollziehbar, denn dass die an den Positionen hängen, die die Grünen in der Ampel nicht aufgegeben haben – wer wollte ihnen das vorwerfen.

Kompromisse innerhalb einer Regierungskoalition entsprechen häufig nicht in allen Punkten den Wahlprogrammen der beteiligten Parteien. Sonst wären es ja keine Kompromisse. Es ist auch nicht erwartbar, dass bereits alle in Fraktionen und Kabinett einbezogen sind, wenn in der Regierungspressekonferenz neue Positionen oder Überlegungen der Regierung verkündet werden, sonst wären sie nicht neu und die ganze Pressekonferenz wäre nicht nötig. Die Mitglieder und Wähler*innen der beteiligten Parteien stecken damit in der Klemme. Sie haben den Reflex, ihre Partei zu verteidigen, teilen aber vielleicht genau die Haltung derjenigen, die deren Position kritisieren.

Bei der nächsten Bundespressekonferenz gab es übrigens kein klares Dementi, stattdessen wurde bestätigt, dass innerhalb der Koalition über das Thema diskutiert wird: »Ich kann Ihnen dazu nur sagen, dass die Gespräche der Bundesregierung zu diesem Thema noch laufen«. Bleibt zu hoffen, dass jene Grünen recht haben, die sich überhaupt nicht vorstellen können, dass ihre Parteispitze das mitmacht. Klüger wäre, wenn sie dabei nicht die attackierten, die vor der Vorratsdatenspeicherung warnen.

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