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Olympia und Kolonialismus: Die Last der Vergangenheit
Der lange Schatten des französischen Imperialismus zeigt sich auch bei Olympia
Tanzeinlagen, Lasershows, spektakuläre Bilder von Paris. Die Eröffnung der Olympischen Spiele wirkt nach – als Feier einer vielfältigen Gesellschaft. Und im Zentrum der Show: die Seine. Doch in diesem Spektakel ging eine Geste unter: Während der Bootsparade warfen Sportler aus Algerien rote Rosen in den Fluss. Sie riefen »Lang lebe Algerien«. Damit erinnerten sie an ein Massaker.
Am 17. Oktober 1961 protestierten französische Staatsbürger algerischer Herkunft gegen eine nächtliche Ausgangssperre in Paris. Die Polizei prügelte auf die Demonstranten ein. Mindestens 200 von ihnen starben, viele ertranken in der Seine, sagt die in London lebende Journalistin Shahla Omar: »Diese Geste wurde in sozialen Medien intensiv diskutiert, aber sie wurde nicht in der weltweiten Fernsehübertragung gezeigt.« An der Stelle, wo das Massaker stattgefunden hat, hätte man die Zeremonie vielleicht unterbrechen können, findet Omar. »So hätte die Trauer des algerischen Teams eine größere Aufmerksamkeit erhalten.«
Algerien stand 132 Jahre unter der Kontrolle Frankreichs. Einige Quellen legen nahe, dass französische Soldaten und Polizisten in dieser Zeit bis zu 1,5 Millionen Algerier getötet haben. Inzwischen spricht Präsident Emmanuel Macron die Kolonialverbrechen an, doch von einer angemessenen Aufarbeitung sei Frankreich weit entfernt, betont die Reporterin und schildert eine weitere Beobachtung.
Athleten werden rassistisch beleidigt
Die Sängerin Axelle Saint-Cirel sang während der Eröffnungsfeier die französische Hymne. Sie stand dabei auf dem Dach des Grand Palais. Was viele nicht wissen: Das Grand Palais wurde für die Weltausstellung im Jahr 1900 gebaut. Damals wurden dort »Völkerschauen« abgehalten. »Dort wurden Menschen aus den Kolonien erniedrigt«, erinnert Omar. In der Eröffnungsfeier: kein Wort dazu.
Auch in der Gegenwart ist der olympische Sport mit der Kolonialzeit verbunden. Etliche Spitzenathleten Frankreichs haben biografische Wurzeln in früheren Kolonien. Basketballstar Victor Wembanyama in Kongo. Der Judoka Teddy Riner in Guadeloupe. Schwarze Sportler wie sie werden in den olympischen Sportstätten von den französischen Fans gefeiert. In den sozialen Medien sieht das anders aus. Dort werden sie rassistisch beleidigt und als »nicht französisch« bezeichnet, sagt der in Algerien lebende Journalist Maher Mezahi: »Viele Rechtsextreme beschreiben zum Beispiel Judo als Schwarzen und arabischen Sport. Es gibt einen Eifer, den Sport politisch aufzuladen.«
Diese Vereinnahmung von Sportlern hat in Frankreich eine lange Tradition. 1928, bei den Olympischen Spielen in Amsterdam, gewann der algerischstämmige Franzose Boughéra El Ouafi die Goldmedaille im Marathon. Mehr als dreißig Jahre später wurde er von Mitgliedern der algerischen Unabhängigkeitsbewegung ermordet. Offenbar, weil er ihren Kampf nicht unterstützen wollte. Französische Medien machten damals mit diesem Fall Stimmung gegen Algerier, erzählt der Reporter Mezahi und nennt ein weiteres Beispiel: Einer der erfolgreichsten Marathonläufer der Geschichte stammte aus Algerien, aber er wollte sich unbedingt in Frankreich integrieren. Ali Mimoun nannte sich fortan Alain Mimoun und konvertierte zum Christentum. »Aber er sprach weiter über Rassismus«, sagt Mezahi. »So wurde Mimoun zu einer berühmten Persönlichkeit Frankreichs.«
Viele Verbindungen bis heute
Die aktuellen Sportler sind nach der Kolonialzeit geboren worden. Einige von ihnen besitzen doppelte Staatsbürgerschaften. Die Turnerin Kaylia Nemour zum Beispiel wuchs in Frankreich auf. Wegen einer komplizierten Verletzung wollte der französische Verband die 17-Jährige nicht an Olympia in Paris teilnehmen lassen. Es kam zum Streit. Neymour startete dann für das Geburtsland ihres Vaters, Algerien, und gewann am Sonntag Gold am Stufenbarren. Der erste Triumph im Turnen für eine afrikanische Nation überhaupt – ausgerechnet von einer gebürtigen Französin.
Frankreich und etliche seiner früheren Kolonien halten noch immer enge wirtschaftliche Verbindungen. Viele französische Unternehmen sind zum Beispiel in Marokko aktiv. »Aber im Sport geht es emotionaler zu«, sagt die marokkanische Journalistin Basma El Atti. »Dass einige marokkanische Fußballer, die in Frankreich aufgewachsen sind, kein Arabisch sprechen, wird auch kritisch gesehen.« In Paris spielt die marokkanische Fußballnationalmannschaft am Donnerstag gegen Ägypten um die Bronzemedaille.
Olympische Spiele in Frankreich? Das sind Spiele mit kolonialer Vergangenheit. Ob die Gastgeber in Paris darauf eingehen? Zumindest lassen sie den französischen Gründer des Internationalen Olympischen Komitees in diesem Kontext fast unerwähnt. Pierre de Coubertin war ein großer Befürworter des Kolonialismus.
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