»Paris Paradies«: Leben heißt, den Tod vermeiden

»Paris Paradies« von Marjane Satrapi hinterfragt das unausweichliche Ende jeder individuellen Existenz

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 5 Min.
Wer möchte nicht auch so etwas, wenn es so weit ist: einen Hightech-Sarg mit Mobiltelefon und Notfallsauerstoffversorgung?
Wer möchte nicht auch so etwas, wenn es so weit ist: einen Hightech-Sarg mit Mobiltelefon und Notfallsauerstoffversorgung?

Es ist ein Effekt wie aus einem billigen Horrorfilm: Giovanna schreckt in einem Kühlfach hoch. Zum Glück ist sie noch nicht begraben worden, sondern befindet sich im Leichenschauhaus, wo man ihren Mann erwartet. Der steht dann mit seinem Rollkoffer, direkt vom Flughafen kommend, genau richtig. Singt da jemand? Tatsächlich, denn nach einigen verständlichen Entsetzensschreien hat Giovanna angefangen, auf ihr Repertoire zurückzugreifen. Das lag nahe, denn sie war, nein ist Opernsängerin. Und singen ist immer gut gegen die Angst, gleich ob im dunklen Wald oder in einem engen Kühlfach.  

Giovanna war – wie schon zu vermuten – nur scheintot und ist nun wieder sogar erstaunlich gut bei Stimme. Glück gehabt? Nicht ganz, denn die Nachricht von ihrem plötzlichen Ableben hat ihre Agentin umgehend der Presse übermittelt. Nun wartet Giovanna (mit allen Hysterien einer alternder Diva: Monica Bellucci) auf die Nachrufe, die unweigerlich erscheinen werden. Ein Fest der Eitelkeit, das ihr über den erlittenen Schock hinweghelfen soll. Aber stattdessen erscheinen nur kurze Meldungen mit ihrem Namen und dem Alter. Das macht sie fassungslos: »Was heißt sechzig? Ich bin gerade erst neunundfünfzig geworden!«

Der Tod lässt sich nicht in zeitgeistigen Lifestyle verwandeln, er lässt sich weder optimieren noch verschönern.

»Paris Paradies« der iranisch-französischen Regisseurin Marjane Satrapi ist kein Paris-Film im engeren Sinne, sondern eine Meditation über die Dinge des Lebens. Mit Aberwitz hat sie dabei nicht gespart. Denn unweigerlich trifft man in den unpassendsten Momenten auf den Tod. Ein halbes Dutzend parallel geführter Episoden kreisen um die Absurditäten unserer Existenz, hinter der die ganze Zeit ein barockes Memento Mori steht. Welch bizarrer Totentanz! Die einen versuchen ihn zu verdrängen, die anderen zelebrieren ihn geradezu. Die vielen Handlungsfäden laufen alle, wenn auch lose, bei dem Moderator einer morbiden Krimi-Doku-Sendung Éduard Emmard (Inbegriff saturierter Seriosität: André Dussolier) zusammen, er ist so etwas wie die graue Eminenz des medialen Todes.

Nach einer seiner Sendungen führt ihn ein Friedhofsangestellter in eine abgelegene Gruft. Was er dort sieht, mag er kaum glauben: einen Hightech-Sarg mit Mobiltelefon und Notfallsauerstoffversorgung. Da wird die Hoffnung auf Lebenserhaltung zur absurden Todesverleugnung. Vielleicht ist es diese Botschaft, die die vielen Episoden zusammenhält: Der Tod lässt sich nicht in zeitgeistigen Lifestyle verwandeln, er lässt sich weder optimieren noch verschönern. Er bleibt, trotz allen Fortschritts, das unausweichliche Ende unserer individuellen Existenz.

Giovanna, die für die Öffentlichkeit längst gestorbene Opernsängerin (sie trat seit Langem schon nicht mehr auf), vermag sich an ihrem wiedergewonnenen Leben keinesfalls zu freuen. Sie verbietet jedes Dementi der Todesmeldung und trinkt bloß noch den ganzen Tag. Doch schließlich verbschiedet sie sich doch von ihrem früheren Leben als Operndiva, findet einen Sinn im einfachen Leben. Als ihr Mann Rafael (Eduardo Noriega), Komponist und Dirigent, bei einer Orchesteraufführung plötzlich tot zusammenbricht, kommt sie doch noch zu ihrem großen Auftritt. Sie singt, über den toten Ehemann auf der Bühne gebeugt, Toscas »Vissi d’arte«.

Was ist das? Eine Ansammlung peinlicher filmischer Entgleisungen? Nein, denn erstaunlicherweise hält der szenische Bogen von »Paris Paradies« ein derart karikiertes Pathos aus. Dieser Reigen absurder Abstürze aus dem Selbstinszenierungshimmel des Narzissmus wirkt ebenso komisch wie tragisch. Man könnte darin einen Prozess der Läuterung mit etwas anderen – drastischen – Mitteln erblicken.  

Da ist etwa der Stuntman Mike (Ben Aldrigde), der trotz Schauspielausbildung seit Jahren nur noch halsbrecherische Szenen in Filmen doubelt. Er lebt als alleinerziehender Vater eines halbwüchsigen Jungen, der sich als übermäßig lebensängstlich erweist. Als dieser dann einen Fahrradunfall hat, gerät auch seine Existenz als Stuntman aus den Fugen. Worin liegt der Sinn, tagtäglich sein Leben aufs Spiel zu setzen, wenn er doch als Vater dringend gebraucht wird?

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»Paris Paradies« erweist sich als klug komponierter Strom von Alltagspartikeln sehr vieler Beteiligter. Für sie alle hat das Leben nicht das parat, was sie sich erhofft haben. Wie der Maskenbilder Badou (Gwendal Marimoutou), der wegen seines Hangs, Make-up allzu dick aufzutragen, gerade bei einem Bestatter rausflog. Nun ist er beim Film und verliebt sich in den Stuntman Mike, der ihn aber gar nicht beachtet.

Sehr viele Figuren, kurz aufgegriffene und dann wieder fallen gelassene Handlungsfäden? Das kann man so sehen, aber so viele Darsteller so gekonnt um ein Thema kreisen zu lassen, das hat auch wieder etwas. Und manch einer von ihnen ist einfach nur dominant, wie Rossy de Palma als kettenrauchende und ihren Schwiegersohn hassende Großmutter. Sie schließt einen Pakt mit Gott oder wem auch immer: Eines ihrer Laster sei sie durchaus bereit aufzugeben, um noch etwas länger zu leben. Das Rauchen aber keinesfalls.

Makaber wird es, wenn der depressive Teenager Marie-Cerise bei einem Selbstmordversuch vom Brückengeländer weg gekidnappt wird. Ein Perverser fesselt und foltert sie. Aber sie hat sich schon so viel selbst an allen Körperteilen geritzt, dass sie, trotz aller Angst, instinktsicher seine Inszenierung zu stören beginnt. Das kranke Selbstbild des Sadisten gerät ins Wanken und Marie-Cerise funktioniert diesen immer mehr zu einem Therapeuten nach ihrem Sinne um. Einem, dem sie entgegenschreit, was sie sonst niemandem auch nur flüsternd anvertraut. Sehr seltsam, sehr befremdlich. Aber vielleicht gehört auch das zu den Dingen zwischen Leben und Tod, die nicht jeder verstehen muss.

So wie auch das zur Schau gestellte Selbstbild des gelassenen Todesexperten, des Fernsehmoderators Emmard. Am Ende zerbricht es. Nach einem Routinecheck im Krankenhaus hat er mit seinen eigenen plötzlich eingedunkelten Lebensperspektiven zu kämpfen. Was er uns am Ende zu sagen hat, deutet die philosophische Dimension an, die in »Paris Paradies« glücklicherweise immer mitschwingt: »Leben ist die Gesamtheit der Chancen, sich täglich dem Tod zu entziehen.«

»Paries Paradies«, ab 8.8. im Kino, Frankreich 2024, Regie: Marjane Satrapi, mit Monica Bellucci, Ben Aldridge, Eduardo Noriega, 110 Minuten

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