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Über Krieg und Frieden entscheidet Chamenei
Irans neue Regierung formiert sich unter den Augen des Wächterrats
Immer im Sommer werden die Probleme in der Islamischen Republik Iran ein bisschen sichtbarer, fühlbarer. 47 Grad Celsius zeigten die Thermometer zum Beispiel in Ahwaz in der Grenzregion zum Irak. 1,2 Millionen Menschen leben hier; nach Ansicht der Weltgesundheitsorganisation gehört die Stadt zu denjenigen mit der dreckigsten Luft weltweit. Es herrschen Arbeitslosigkeit, Armut, soziale Probleme. Und seit Jahren auch ein akuter Wassermangel. Hauptursache: ausbleibende Regenfälle, aber vor allem eine völlig veraltete und marode Infrastruktur. Und eine Führung in Teheran, die sich nicht kümmert. Nicht hier, nicht irgendwo.
Nahezu täglich appellieren mittlerweile Lokalpolitiker aus so gut wie allen Teilen des Landes an die Regierung, bitten um Hilfe und schaffen es damit sogar in die eigentlich streng kontrollierten Medien. Die Probleme sind so groß, dass sie sich nicht mehr wegzensieren lassen. Und die Regierung? Verweist auf die Sanktionen der USA, auf die Bedrohung durch Israel: Man wolle ja, könne aber nicht. In- und ausländische Beobachter sind sich jedoch einig: Ursache der Probleme ist vor allem eine falsche Prioritätensetzung. Und Strukturen, auf deren Grundlage bei der Besetzung von wichtigen Funktionen die ideologische Treue vor die Kompetenz gesetzt werden.
Nun hat der Iran eine neue Regierung, nachdem Präsident Ebrahim Raisi im Mai bei einem Hubschrauber-Absturz ums Leben gekommen war. Anfang Juli wurde Massud Peseschkian zu seinem Nachfolger gewählt. Dass er überhaupt kandidieren durfte, dass er gewählt wurde, war überraschend. Denn zwar betont Peseschkian immer wieder seine Treue zur Islamischem Republik und seine Unterstützung für die Politik des Staatsoberhaupts Ajatollah Ali Chamenei. Aber er gilt auch als Vertrauter der ehemaligen Präsidenten Mohammed Khatami und Hassan Ruhani, die sich stets für weitreichende Reformen eingesetzt haben. Unter Khatami war Peseschkian Gesundheitsminister. Mehrfach war Peseschkian vom Wächterrat, der über alle Kandidaturen entscheidet, von Wahlen ausgeschlossen worden.
Am Sonntag stellte der neue Präsident nun vor dem Parlament sein neues Kabinett vor. Ein Novum war, dass die Sitzung live im Fernsehen übertragen wurde. So konnten alle, die wollten, sehen, was Peseschkian vorhat, und dass sich auch, wenn er wirklich will, wahrscheinlich nichts ändern wird. Auf seiner Kabinettsliste stehen nahezu ausschließlich Namen, die sich in der Sacharbeit einen Namen gemacht haben, darunter Abbas Araghchi, ein Berufsdiplomat und ehemaliger Unterhändler in den Verrhandlungen über das iranische Atomprogramm. Nun soll er Außenminister werden. Er sei sehr kritisch, aber auch sehr offen, sagen Diplomaten aus den USA, Deutschland und Saudi-Arabien übereinstimmend. Infrastrukturministerin soll Farzaneh Sadegh werden, als überhaupt erst zweite Frau in einer Regierung seit der Islamischen Revolution. Die 47-Jährige war bisher Generaldirektorin des Ministeriums.
Doch im Parlament haben die Konservativen die Mehrheit, also jene, die völlig hinter der Richtung Chameneis stehen; alle Besetzungen müssen von ihnen bestätigt werden. Und als Araghchi und Sadegh vorgestellt wurden, gab es hörbare Unruhe im Saal. Wahrscheinlich ist deshalb, dass nun mehrere Verhandlungsrunden im Hinterzimmer beginnen und am Ende dann doch wieder Ideologen das Sagen haben werden.
Konsequenzen aus dem Postenschacher hat bereits der erst vor zehn Tagen ernnannte Vizepräsident Dschawad Sarif gezogen. Der frühere iranische Außenminister und Atomunterhändler ist von seinem neuen Posten zurückgetreten. In einer Erklärung im Onlinedienst X nannte Sarif am Montag mehrere Gründe für seinen Rücktritt, insbesondere seine Unzufriedenheit über die Zusammensetzung des neuen Kabinetts. Er habe sein Versprechen nicht halten können, mehr Kabinettsposten mit Frauen, jungen Menschen und Angehörigen ethnischer und religiöser Minderheiten zu besetzen, erklärte Sarif.
Regierungen sind im Iran für das Tagesgeschäft zuständig, aus dem sich Chamenei und seine Leute weitgehend heraushalten. Sie geben nur die grobe Richtung vor. Über Krieg und Frieden entscheidet indes Ajatollah Chamenei allein, wahrscheinlich in Abstimmung mit der Führung der Revolutionsgarden.
Und derzeit ist die Kriegsgefahr groß. Kurz nach der Amtseinführung Peseschkians wurde in Teheran Ismail Hanijeh, der Chef des Politbüros der Hamas, getötet. Die Revolutionsgarden kündigten zwar Vergeltung an. Doch die ist bislang ausgeblieben. Warum, das lässt sich nicht genau sagen. Sicher ist jedoch, dass die Führung der Hamas und die Revolutionsgarden sich in den vergangenen Jahren nicht immer einig waren. Nachdem die Hamas dem syrischen Präsidenten Baschar al-Assad die Unterstützung entzogen hatte, herrschte für einige Jahre Eiszeit.
Aus den Massenprotesten der vergangenen Jahre, der geringen Beteiligung an von den Revolutionsgarden orchestrierten Kundgebungen gegen Israel und die USA und aus Äußerungen in sozialen Netzwerken lässt sich zudem ableiten, dass in der Bevölkerung die Ablehnung für die extrem teure militärische und finanzielle Unterstützung für militante Gruppen im Ausland groß ist. Konsens scheint zu sein, dass das Geld im Inland dringend gebraucht wird. Und die vielen Probleme, die den Menschen im Alltag begegnen, unterstützen das. Aber vor allem: Auch wenn die Proteste mittlerweile weitgehend niedergeschlagen sind, ist die Lage unbefriedet. In den Grenzregionen zu Afghanistan und Pakistan kommt es zudem verstärkt zu Anschlägen.
Die Gefahr, dass ein direkter Krieg zwischen dem Iran und Israel zu einer neuen offenen Protestwelle im Iran führen könnte, ist groß. Und Ajatollah Chamenei wird immer älter: 85 Jahre alt ist das Staatsoberhaupt mittlerweile. Sein Nachfolger würde in einer völlig anderen Situation starten als er. Damals, 1989, war die Unterstützung für die Islamische Revolution groß. Und das Konzept lebt von einer breiten gesellschaftlichen Unterstützung, die der Amtsinhaber erzeugen muss. Die Proteste haben aber gezeigt, dass das Amt des Obersten Führers heute vor allem als Symbol der Unfreiheit und Krise gesehen wird.
Vor allem Abbas Araghchi als Außenminister hätte das Potenzial, das Blatt zu wenden, indem man stattdessen versucht, den Gaza-Krieg durch Verhandlungen zu beenden. Doch ob man ihn lässt, ist völlig offen.
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