Ritter im Wolkenkratzerwald

Textile Texte (9): Der Hut schützt nicht nur vor Regen – er hilft auch dabei, es mit der modernen Welt aufzunehmen

  • Frank Jöricke
  • Lesedauer: 4 Min.
Die Hutkrempe als Schutzschild.
Die Hutkrempe als Schutzschild.

Die zurückliegende Fußballeuropameisterschaft war mal wieder ein einziges Desaster – was die Frisuren angeht. Wen wundert’s! Der Kopf ist seit jeher die Problemzone des gemeinen Kickers. Er vermag mit diesem Körperteil einen Ball in ein Netz zu befördern; das Äußern von Gedanken hingegen überfordert ihn regelmäßig. Bei Satzgefügen mit mehr als zehn Wörtern plappert er sich ins Abseits.

Doch sollten wir den Fußballer dafür nicht tadeln. In einer hochspezialisierten Gesellschaft muss jeder seine Nischenbegabung finden. Von einem Steuerfachangestellten erwartet man ja auch nicht, dass er ein Schwein zerlegen und zu Teewurst verarbeiten kann.

Weniger Nachsicht verdienen jene Missetaten, die der Fußballer an seinem Kopfhaar begeht. Ein Rudi Völler ist weniger wegen seiner Mittelstürmerqualitäten als wegen seines Vokuhila (vorne kurz, hinten lang) im kollektiven Bewusstsein geblieben. Dem ballgewandten Florian Wirtz droht ein ähnliches Schicksal. Auch er ist ein Opfer der Schere. Sein aktuelles, nun ja, Haardesign erinnert fatal an den Kochtopfschnitt von Jim Carrey in »Dumm und dümmer«. Dass viele seiner Mannschaftskollegen offensichtlich den gleichen Coiffeur aufsuchen, macht die Angelegenheit nicht besser.

Textile Texte

Mode und Verzweiflung: In diesem Sommer beschäftigt sich das nd-Feuilleton mit Hosen, Hemden, Hüten und allem, was sonst noch zum Style gehört.

Da hatten es Männer in Sachen Haare früher einfacher. Wenn heute über »Kopftuchmädchen« debattiert wird, sollte man sich daran erinnern, dass die Verhüllung des Haupthaars auch im christlichen Kulturkreis eine lange Tradition hat. Noch in den 50er Jahren war das Tragen von Kopftüchern in der Öffentlichkeit weitverbreitet. Es ziemte sich für eine Frau nicht, ihr langes Haar auf der Straße wehen und wallen zu lassen.

Das galt übrigens auch für das andere Geschlecht – außerhalb von Bar und Büro trug Mann Hut. Die Herren waren dabei im Vorteil. Während einer Frau das Kopftuch ästhetisch nicht zum Vorteil gereicht (was Absicht ist: Die Frau soll asexueller und dadurch unattraktiver auf andere Männer wirken), profitieren diese von der Kopfbedeckung. Ein Hut wertet einen Mann optisch auf. Er verbirgt, dass sich darunter ein langweiliger Kurzhaarschnitt oder, schlimmer noch, tiefe Geheimratsecken oder eine Glatze befinden.

Ein Hut wertet einen Mann optisch auf. Er verbirgt, dass sich darunter ein langweiliger Kurzhaarschnitt oder, schlimmer noch, tiefe Geheimratsecken oder eine Glatze befinden.

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Auch vermag ein modischer Hut davon abzulenken, dass der Anzug von der Stange ist und die Schuhe bessere Tage gesehen haben. Ja, er kann sogar einem Gesicht das entscheidende Etwas verleihen. Hat da jemand »Humphrey Bogart« gerufen? In nur 25 Jahren brachte er es auf rund 80 Filme. Doch zur Ikone wurde er durch eine einzige Szene: den Abschied von Ingrid Bergman in »Casablanca«. Erst der Hut verlieh »Bogey« jene Coolness, die es ihm ermöglichte, hochemotional zu sein, ohne gefühlsduselig zu wirken.

Das Geheimnis liegt in der Krempe. Sie schafft Distanz und wirft einen Schatten auf die Augen, wodurch diese weniger gut zu erkennen sind. Auf diese Weise entsteht eine Schutzzone. Weshalb Bogart auch in seiner zweiten Paraderolle – als Privatdetektiv Philip Marlowe in der Raymond-Chandler-Verfilmung »The Big Sleep« selbstverständlich Hut trägt. So hält er die Welt, die ihn anwidert, auf Abstand.

Gründe für diesen Ekel gibt es genug. Die von liberalen Feministinnen gern glorifizierte Arbeitswelt (»Auch Frauen sollen das Recht haben, ein Karriereschwein zu werden«) ist seit jeher eine Vorhölle. Heuer wird diese häufig mit Hygge-Sprech ausgekleidet (»Work-Life-Balance«, »Teambuilding«, »familiengerechte Arbeitszeitmodelle«), um eine Wohlfühlatmosphäre zu suggerieren. Tatsächlich erhalten die Galeerenketten nur eine Plüschummantelung.

Den Männern früherer Generationen war dieses berufliche Elend noch bewusst. Gerade mal anderthalb Minuten benötigt Billy Wilder, um in der Eingangsszene von »The Apartment« (1960) die ganze Trostlosigkeit eines Büroangestelltenlebens zu veranschaulichen. Doch sobald der Schreibtischarbeiter Jack Lemmon die unheiligen Gemäuer eines Versicherungskonzerns hinter sich lässt und seine Kopfbedeckung aufsetzt, durchläuft er eine Metamorphose. Dann wird der Hut zum Helm und der Trenchcoat zum Harnisch, um der feindlich gesinnten Wolkenkratzerwelt entgegenzutreten.

Das ist der Moment, in dem man begreift: All die Schwarzweiß-Streifen, in denen coole Helden Hut tragen, sind eigentlich Ritterfilme. Sie zeigen Männer, die unter schwierigen Umständen versuchen, anständig zu bleiben, integer. Deshalb berührt uns die Abschiedsszene von »Casablanca« bis heute. So ritterlich wie Humphrey Bogart wären wir manchmal auch gern. Aber wie soll das gehen, ganz ohne Hut?

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