Das Wangerooge-Syndrom

Der Wunsch, den Menschen fern zu sein, ist ein Systemfehler, glaubt Leo Fischer

  • Leo Fischer
  • Lesedauer: 3 Min.
Einsamkeit: Das Wangerooge-Syndrom

Vor kurzem wurde eine kuriose Stellenanzeige veröffentlicht: Die ostfriesische Insel Wangerooge suchte ein*e Leuchtturmwärter*in. Die Annonce hatte bundesweit für Aufsehen gesorgt, die Ausschreibenden konnten sich vor Bewerbungen kaum retten. Die nahezu vollständige Isolation von der Außenwelt, die Monotonie der Einöde scheinen einen magischen Reiz auszuüben. Als Gegenmodell erscheint die Pflegkraft, die für Hunderte Leben Verantwortung trägt, im Zentrum eines dichten sozialen Netzes wirkt – ein Job, den niemand mehr ausüben möchte, jedenfalls nicht zu den Bedingungen, die die Pflegeindustrie diktiert.

Den Menschen fern zu sein, nahezu autonom zu existieren – ob im Häuschen auf dem Lande, auf Campingplätzen oder eben in Leuchtturm – ist der heimliche Herzenswunsch vieler. Gleichzeitig registrieren Mediziner*innen in den Industrieländern eine »loneliness epidemic«. Die Menschen sind ausgezehrt nach sozialer Zuwendung, haben kaum Freund*innen, sind auf kärgliche Wohnungen und Konsummeilen zurückgeworfen. Einsamkeit macht krank – und obwohl so viele an ihr leiden, ist der Leuchtturm auf Wangerooge dennoch Sehnsuchtsort.

Leo Fischer
Leo Fischer

Foto ist privat, kein Honorar

Leo Fischer ist Journalist, Buchautor und ehemaliger Chef des Satiremagazins »Titanic«. In seiner Kolumne »Die Stimme der Vernunft« unterbreitet er der Öffentlichkeit nützliche Vorschläge. Alle Texte auf: dasnd.de/vernunft

Das widerspricht sich nur scheinbar. Das Arbeitsmodell mit vierzig Wochenstunden basierte auf der Hausfrau, die im Hintergrund die Care-Arbeit erledigte – bei zwei Vollzeitbeschäftigten ist die verbleibende Freizeit von all den unzähligen Besorgungen bestimmt, die sozialen Austausch verhindern. Die Pflege eines reichen sozialen Netzwerks mit zahllosen Freund*innenbesuchen ist ein Privileg, das man sich leisten können muss. Gleichzeitig sind soziale Beziehungen im Kapitalismus aufs Äußerte merkantilisiert. Wer hat wen eingeladen? Wer bringt wem welche Geschenke mit? Wo lassen sich nützliche Kontakte knüpfen, wer hat den höheren Status? Das Leben mit Freund*innen wird zu einer weiteren Arena der Leistungsgesellschaft, in der man sich zu beweisen hat, statt aufgefangen und gestärkt zu werden.

Mit dem öffentlichen Raum ist es ebenso. Jeder Quadratmeter muss gewinnoptimiert sein; eine öffentliche Parkbank schmälert die Gewinne des Cafébesitzers daneben. Wo sich Menschen überhaupt noch ohne Konsumabsicht versammeln können, wird schnell vom Brennpunkt gesprochen – weil sich da die Klassengesellschaft repräsentativ, nämlich auch in ihren unschönen Seiten abbildet. Die Werbung erzieht uns dazu, von niemandem abhängig zu sein, sich selbst zu verwirklichen, ohne Rücksicht auf andere.

Die Menschen wollen eigentlich nicht auf Wangerooge. Sie fliehen vor warenförmiger Kommunikation, erzwungener Freundlichkeit, »fake happiness« und leblosen Großstädten; vor sozialen Beziehungen, die immer schon Leistungen oder Forderungen sind. Eine sinnvolle Gesellschaft solidarischer, freier Menschen, so die Logik, werde ich hier wie dort nicht finden. Ob ich in der Großstadt vor Einsamkeit vergehe oder auf Wangerooge, ist dann fast egal – auf dem öden Eiland ist wenigstens die Luft besser.

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