- Politik
- Zerfall des Realsozialismus
Eine unerzählte Wendegeschichte
Vor 35 Jahren wurde die Grenze zwischen Ungarn und Österreich geöffnet. Unser Autor war damals als Fotojournalist vor Ort
Es gibt Tage, an denen länger andauernde Entwicklungen in einem einzigen Ereignis kumulieren – das dann wiederum eine Initialwirkung auf die weitere Entwicklung der Geschichte hat. Ein solcher Tag war der 19. August 1989: die Öffnung der ungarisch-österreichischen Grenze und der Flucht von mehr als 500 DDR-Bürgern in den Westen. Bis heute wird dieses Ereignis in Medienberichten überwiegend verzerrt bis falsch dargestellt. Fotos von der entscheidenden Szene der Grenzöffnung wurden nicht oder mit einer falschen Bildunterschrift veröffentlicht: In Wirklichkeit waren es nicht die österreichischen, sondern die ungarischen Grenzer, die das Tor öffneten.
Ich war als bundesdeutscher Journalist mit meiner Leica vor Ort, habe die Szenen vor und nach der Grenzöffnung im Bild festgehalten. Dass ich im entscheidenden Moment vor Ort war, war mehreren Zufällen geschuldet. Am 17. August 1989 war ich nach Budapest gereist, wo sich bereits viele DDR-Bürger*innen zuerst in der Botschaft der Bundesrepublik und später in einem Zeltlager auf dem Gelände der Kirchengemeinde im Ortsteil Zugliget versammelt hatten und auf eine Ausreisemöglichkeit in die Bundesrepublik hofften. Am Folgetag suchte ich das Zeltlager auf und sprach mit einigen von ihnen, die vor allem die wirtschaftliche Perspektivlosigkeit in der DDR als Motiv nannten. Im ungarischen Pressezentrum bekam ich dann den Hinweis, dass am nächsten Tag im Grenzgebiet nahe Sopron ein »Paneuropäisches Picknick« stattfinden sollte und ich unbedingt dort hinfahren solle, weil an der Grenze etwas geschehen würde.
Ein »paneuropäisches Picknick«
Als einen besonderen Glücksfall begegnete ich Rod Nordland, der damals als Sonderkorrespondent für die englische Zeitschrift »Newsweek« arbeitete. Später wurde er als Auslandsreporter für die New York Times mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet. Ohne ihn wäre ich womöglich nicht von Budapest zur Grenze gekommen oder zum Picknick gegangen und hätte – wie der RTL-Kollege – die unmittelbare Grenzöffnung nicht mitbekommen. Doch Rod hatte Kontakte zur ungarischen Opposition, die ihm einen anderen Parkplatz genannt hatte. Von dort marschierten wir kilometerlang gemeinsam mit vielen DDR-Flüchtlingen über Wirtschaftswege in Richtung Grenztor.
Als hinter uns ein Geländewagen mit bundesdeutschem Kfz-Kennzeichen aus dem Main-Spessart-Kreis auftauchte, stellten wir uns in den Weg und verlangten, als internationale Pressevertreter mitgenommen zu werden. Der Fahrer lachte uns aus, schließlich waren alle Sitze mit jungen DDR-Flüchtlingen besetzt. Wagemutig setzten wir uns auf die Kühlerhaube und erreichten so noch geraume Zeit vor der Grenzöffnung das Tor, vor dem sich schon ein ungarisches TV-Team und auf der anderen Seite eine Vielzahl von Fotojournalisten eingefunden hatten. Nach und nach kamen auch mehr und mehr DDR-Flüchtlinge an. Am Rande der Szene besprachen sich der Chef der ungarischen Grenzer und der österreichische Grenzpolizist. Instinktiv drückte ich auf den Auslöser der Kamera.
Auf der österreichischen Seite spielte eine Blaskapelle zum Empfang, TV-Teams machten Interviews mit Flüchtlingen.
Bewegung kam in die Sache, als auf der österreichischen Seite Radfahrer auftauchten: der Bürgermeister der burgenländischen Nachbarstadt Mörbisch mit Gefolge, die am »Paneuropäischen Picknick« teilnehmen wollten. Die ungarischen Grenzer öffneten das Grenztor und stempelten Visa in die Pässe der Österreicher, die sich dann weiter auf den Weg machten. Das Tor blieb von da an offen.
Wenige Minuten später sprang eine kleine Gruppe von DDR-Flüchtlingen in den Straßengraben, stürmte unmittelbar danach aus dem Graben wieder heraus und rannte durch das sperrangelweit offenstehende Grenztor. In diesem Moment klickten die Kameras der Fotojournalisten auf der österreichischen Seite und es entstanden die Fotos, die bis heute zu diesem Ereignis in allen Medien zu finden sind. An diese erste Gruppe schlossen sich dann weitere DDR-Flüchtlinge an und gemeinsam mit Rod Nordland gehörte ich wohl zu den ersten 30 Personen, die die Grenze überquerten. Auf der österreichischen Seite spielte eine Blaskapelle zum Empfang, TV-Teams machten Interviews mit Flüchtlingen und es standen Reisebusse bereit für deren Abtransport in die Bundesrepublik.
Wenig später berichtete mir ein »Bild«-Reporter, er habe bereits drei Tagen zuvor mit österreichischen Stellen über diese Aktion gesprochen und in der Nacht zuvor Campingplätze in der Umgebung abgeklappert und DDR-Bürger*innen auf die Fluchtmöglichkeit hingewiesen. Diese Version bestätigte mir fünf Jahre später eine Mitarbeiterin des Bürgermeisters im österreichischen Grenzort Mörbisch: Ja, man habe damals, als die Flüchtlinge einzeln oder in kleinen Gruppen durchs Schilf kamen, helfen wollen. Gemeinsam mit ungarischen, österreichischen und bundesdeutschen Stellen und mit Wissen und Billigung der drei Regierungen habe man in aller Schnelle die Aktion vorbereitet.
Natürlich wollte ich noch einmal an das Grenztor und versuchte dies im Jahr 1994 dann auch. Auf dem Weg dorthin hielten uns österreichische Soldaten auf, nur der städtische Dienstausweis der Mitarbeiterin half weiter. Ansonsten kam niemand durch. Damals verlief hier die Außengrenze der EU. Flüchtlingen wurde konsequent der Weg versperrt.
Verständigung der Blöcke?
Den Kulminationspunkt im historischen Zusammenhang bildete diese Grenzöffnung vor dem damaligen Ost-West-Dialog und der bereits zu spürenden Öffnung der KPdSU-Führung für eine deutsche Wiedervereinigung. Im Juni 1988 waren bei einem Seminar der »Evangelischen Akademie« in Loccum Offiziere von Bundeswehr und DDR-NVA gemeinsam zu dem Schluss gekommen, dass nicht nur kein Atomkrieg geführt werden dürfe, sondern auch kein großer, weiträumig geführter konventioneller Krieg. Es gäbe bei einem solchen Krieg keine Gewinner mehr, sondern nur noch Verlierer und die Schäden an kritischer Infrastruktur, vor allem Versorgung mit Elektrizität wären absehbar erheblich größer als im Zweiten Weltkrieg. Auf diesem Seminar sprach mich ein enger Mitarbeiter Egon Bahrs an und fragte, was ich von folgendem Gedanken hielte: Die Bundesrepublik gäbe der Sowjetunion erstens verbindliche Sicherheitsgarantien, dass nie wieder Krieg von deutschem Boden gegen die UdSSR ausginge, zweitens massive Wirtschaftshilfe, die das Land dringend benötige – und erhielte dafür im Gegenzug die DDR. Zu diesem Zeitpunkt 1988 war ich bass erstaunt über einen solchen Gedankengang und erwiderte nur: Man sollte dazu vielleicht einmal die DDR fragen.
Bei der Folgeveranstaltung der »Evangelischen Akademie« in Loccum im Juni 1989 war der Gorbatschow-Berater Nikolai Portugalow anwesend. Während einer Podiumsdiskussion machte er einige nebulöse Äußerungen, die von den anwesenden Journalisten als »Wedeln mit der Karte einer deutschen Wiedervereinigung« angesehen wurden. Nachfragen, was er damit konkret meine, wich Portugalow aus. Verstanden wurde er auch so – auch von Diplomaten der Ständigen Vertretung der DDR in Bonn, die im Gespräch in der Pause konstatierten, dass die UdSSR die DDR wohl aufgeben werde.
Dass Ungarn in diesem Zusammenhang eine besondere Rolle spielte, verwunderte nicht. Hier hatten schon im Mai 1989 ungarische Grenzsoldaten mit der Demontage des Grenzzaunes zu Österreich begonnen und am 27. Juni 1989 durchschnitten die Außenminister Gyula Horn und Alois Mock in einer symbolischen Aktion den Stacheldraht an der Grenze. Ab dem 11. September 1989 erlaubte Ungarn auch DDR-Bürgern offiziell die Ausreise nach Österreich. Binnen drei Tagen flohen 15 000 Menschen und bis zum Monatsende noch einmal fast 20 000. Als die DDR daraufhin keine Reisen nach Ungarn mehr genehmigte, füllten sich die Botschaften von Prag und Warschau mit Fluchtwilligen.
Dieser Fluchtwelle folgten anschließend die großen Demonstrationen in Leipzig und weiteren Städten der DDR und schließlich die Maueröffnung. Die Wiedervereinigung folgte auf dem Fuße.
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