Claudia Sheinbaum in Mexiko: »Sie wird Macht ausüben«

Claudia Sheinbaum wird im Oktober die erste Präsidentin in Mexiko. Von ihrem Vorgänger muss sie sich absetzen, meint der Journalist José Gil Olmos

  • Interview: Moritz Osswald
  • Lesedauer: 7 Min.
Unterstützer*innen von Claudia Sheinbaum warten am Wahltag auf dem Zocalo-Platz in Mexiko-Stadt auf die neue Präsidentin. Von dem charismatischen Vorgänger Andrés Manuel López Obrador wird sie sich emanzipieren müssen.
Unterstützer*innen von Claudia Sheinbaum warten am Wahltag auf dem Zocalo-Platz in Mexiko-Stadt auf die neue Präsidentin. Von dem charismatischen Vorgänger Andrés Manuel López Obrador wird sie sich emanzipieren müssen.

Herr Olmos, wie haben Sie die Wahlnacht am 2. Juni erlebt?

Ich habe hier in Mexiko-Stadt den Urnengang verfolgt. Mir war klar, dass die Kandidatin der Morena-Partei, Claudia Sheinbaum, die Wahl gewinnen wird. Denn die Gegenkandidatin Xóchitl Gálvez – das war eher ein Improvisationsakt der Opposition.

Wieso?

Das Bündnis der Oppositionsparteien hat sie erst wenige Monate vor der Wahl als Präsidentschaftskandidatin präsentiert. Ihre Intention war eigentlich, Bürgermeisterin von Mexiko-Stadt zu werden. Die Opposition hatte einfach keine anderen Kandidaten.

Gab es trotzdem Überraschungen?

Am Tag danach, als die offiziellen Wahlergebnisse verkündet wurden, überraschte mich eines: die enorm hohe Wahlbeteiligung. Sie lag diesmal bei 65 Prozent. Bei vorherigen Wahlen lag sie bei rund 54 oder 55 Prozent. Morena mit Claudia Sheinbaum hat mit deutlichem Abstand zur Opposition gewonnen. Auch die Zahl der Stimmen im Kongress für Abgeordnete und Senatoren der Morena-Partei hat mich überrascht.

Interview

José Gil Olmos (62) arbeitet seit 35 Jahren als Journalist und ist für die Investigativzeitschrift »Proceso« tätig. Er stammt aus Mexiko-Stadt, lehrt an zwei renommierten Universitäten und hat sich auf Themen der Innenpolitik, Korruption und des Organisierten Verbrechens spezialisiert. 2012 gewann er zusammen mit einer Kollegin den deutsch-mexikanischen Journalistenpreis Walter Reuter.

Die sechsjährige Amtszeit von Andrés Manuel López Obrador war geprägt von Polemiken, autoritären Vorhaben und Korruptionsfällen. All das, was der scheidende Präsident der alten Kaste von Politiker*innen immer vorwirft. Warum scheint das Volk ihm und seiner Partei alle Art von Skandalen zu verzeihen?

Hier wird deutlich, wie sich das Narrativ von López Obrador positiv auf seine Politik ausgewirkt hat. Damit meine ich die Art, wie er zu den Menschen spricht, wie er sich kleidet. Die Menschen hören ihm gerne zu – denn er spricht wie sie. Empathischer, volksnaher als andere Präsidenten. López Obrador verkörpert dieses Bild eines Mexikaners, der um 5 Uhr morgens aufsteht, hart arbeitet, mit zerknittertem Hemd und den Haaren nur mit Wasser nach hinten gekämmt. Er benutzt auch Wörter, die im kollektiven Gedächtnis der Menschen abgespeichert, aber in Vergessenheit geraten sind, wie etwa »fifi« (deutsch: snobbig). Er bedient diese Dichotomie der »Guten« und der »Bösen«. In seiner Amtszeit gab es gravierende Skandale: um die Regierungsbehörde Segalmex, dem Ölkonzern Pemex oder dem umstrittenen Bahnprojekt Tren Maya; selbst seinen eigenen Kindern wird Korruption vorgeworfen. Er als Präsident hat die Drogenmafia rhetorisch verteidigt. Für alle anderen Präsidenten wäre sowas der Untergang gewesen.

Warum für ihn nicht?

Ich kenne López Obrador seit 1994/95. Ich habe miterlebt, wie er anfing, religiöse Symbole zu benutzen. Das erscheint mir fundamental. In der Politik geschieht nichts aus Zufall. Einmal sagte er etwa, er werde verfolgt – wie einst Jesus Christus verfolgt wurde. Als er seine Partei Morena gründete, geschah die Namensgebung aus einem Grund heraus: Morena, das ist die Jungfrau von Guadalupe, das wichtigste religiöse Symbol der nationalen Einheit. Seit Jahrhunderten. All die Unzulänglichkeiten seiner Regierung, all seine Fehler – die Menschen vergeben ihm. Er hat die Figur eines religiösen Pastors eingenommen.

So heißt auch eines der letzten Bücher, die Sie geschrieben haben: »Der Pastor der Massen«. Wird Claudia Sheinbaum, die künftige Präsidentin Mexikos, nahtlos daran anknüpfen? Ihr wird oft nachgesagt, nicht annähernd ein Charisma wie López Obrador zu besitzen.

Die große Herausforderung für sie wird sein, sich als die neue Präsidentin des Landes zu positionieren – und nicht bloß als Erbin eines Projektes. Sie hat bereits angekündigt, die Transformation López Obradors fortzuführen. Ich denke, es wird die Zeit kommen, in der sie sagen muss: Ich habe meinen eigenen Willen, treffe meine eigenen Entscheidungen. Sie wird sagen müssen: »Ich bin jetzt Präsidentin.« Ein Vatermord also begehen, im Sinne der griechischen Tragödie. Metaphorisch natürlich. Sie wird Macht ausüben, und sie wird diese mit niemandem teilen, nicht einmal mit López Obrador. Das scheint mir für sie eine große Herausforderung zu sein.

Welche neuen Vorstöße bringt Sheinbaum denn politisch mit?

Das ist zurzeit noch nicht wirklich klar. Bisher hat sie in ihrem Diskurs vor allem die Ideen von López Obrador genannt. Eine Nuance von ihr dürfte ihre Unterstützung für saubere Energien sein. Sheinbaum hat ohnehin dieses Profil der Wissenschaftlerin, die sich viel mit der Umwelt beschäftigt. Ein weiteres wichtiges Thema wird die Migration sein. Sie ist selbst Tochter von Einwanderern und ist dem Gefühl, Migrantin zu sein, somit näher. Ob die Militarisierung voranschreiten wird, ist noch offen. Vieles ist noch unklar.

Vor seinem Amtsantritt versprach López Obrador, Soldat*innen wieder in ihre Kasernen zu bringen. Das Gegenteil war jedoch der Fall, die Militarisierung hat zugenommen.

López Obrador hat dem Militär viel Macht verliehen – und das meine ich nicht bloß im militärischen Sinne, etwa was Waffen betrifft. Er gab ihnen ökonomische und politische Macht. Das Militär spielte in Mexiko schon immer eine wichtige Rolle: Nach der Revolution bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts regierten keine zivilen Präsidenten das Land. Die Streitkräfte brachten relevante soziale und gesundheitliche Infrastruktur hervor. Nach und nach verloren sie an Präsenz in der Politik – bis das Organisierte Verbrechen eine entscheidende Rolle als Interessensgruppe im Staat eingenommen hat. Damit wurden die Soldaten wieder gebraucht. Als einzige Kraft, die imstande ist, die Drogenmafia zu bekämpfen.

López Obrador versprach, die Streitkräfte von den Straßen wieder in die Kasernen zu bringen. Doch dieses Vorhaben löste sich in Luft auf. Im August 2018 änderte sich seine Haltung nach einem privaten Treffen mit hohen Funktionären der Marine und der Streitkräfte. Es gibt verschiedene Spekulationen darüber, was bei diesem Treffen passiert ist. Statt ihre Gehälter zu erhöhen, machte er die Militärs kurzerhand zu Unternehmern. Sie organisieren heute beispielsweise Bauprojekte. Ich würde nicht daran zweifeln, dass das Militär zu einem bestimmten Zeitpunkt damit beginnen könnte, seine Macht einzusetzen, um wieder die Präsidentschaft der Republik zu übernehmen.

Die Realität unter der Politik von López Obrador ist also eine andere als seine einstigen Versprechen. Die Zahlen zeigen auch, dass es unter seiner Amtszeit mehr Verschwundene gab als je zuvor. Und mehr Tote. Das Konzept »Umarmungen statt Kugeln« ging nicht auf.

Das Organisierte Verbrechen ist in den letzten 30 Jahren zu einer mächtigen Interessensgruppe im Staat geworden. Diese Banden haben die Fähigkeit, Entscheidungen der Regierung zu beeinflussen. Sie kontrollieren ganze Regionen, und Behörden sind in die Geschäfte der Organisierten Kriminalität verwickelt. López Obrador hat gesagt: »Ich werde mich nicht mit einem Feind anlegen, der mächtiger ist als meine Regierung. Wenn ich mich denen stelle, werde ich verlieren.« Er wählte seine Schlachten: Die, die er gewinnen konnte, und die, die er nicht gewinnen konnte. Er hat den Kriminellen also freie Hand gelassen. Selbst für die Armee und die Nationalgarde galt der Befehl, sie nicht zu verfolgen.

Unvergessen ist die Szene, als López Obrador die Mutter des Mafia-Bosses Joaquín Guzmán Loera, »El Chapo«, in dessen Heimat in Sinaloa mit Handschlag begrüßte.

Ja. Und zur gleichen Zeit hat er sich von Organisationen abgewandt, die sich um die Verschleppten, Vertriebenen und Angehörigen der Opfer des Organisierten Verbrechens kümmern, die ihn um Hilfe baten. López Obrador hat sich in die Position der Täter begeben, hat nicht für Aufklärung oder Gerechtigkeit gesorgt. Er hat schlicht ein Problem »verwaltet«. Er hat das Gesetz nicht angewandt, noch nicht einmal militärische Härte. Und all das hat seiner Regierung nicht geschadet.

Hat das mit einem Messianismus zu tun, einem Konzept, dass in Lateinamerika ein Präsident Retter für die Menschen sein muss?

Kurz gesagt: ja. Das mexikanische Volk hat ein sehr religiöses Profil, nicht nur im Sinne des Katholizismus. López Obrador ist eine messianische Figur. Mexiko durchlebt eine Art strukturelle Krise, es herrscht kein Vertrauen mehr in die politischen Parteien. Seit die Missbrauchsfälle gegen Kinder in der Kirche bekannt wurden, fehlt auch dort das Vertrauen. Und der Unternehmerklasse wird erst recht misstraut. Auch die traditionelle Familie – Mutter, Vater, Kinder – steckt in der Krise. Krise bedeutet Wandel. All das führte zu einer Leere, die in einem so religiösen Land wie Mexiko vom Glauben gefüllt werden muss. 2018, als López Obrador gewählt wurde, füllte er diese Leere. Es waren Wählerstimmen, die vom Glauben geprägt waren. Das trägt bis zur jetzigen Wahl. Der neuen Präsidentin Claudia Sheinbaum wurden keine Stimme geschenkt – sondern sie erhielt eher Stimmen, die die Regierung von López Obrador bestätigten.

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