Ines Schwerdtner: »Für wen machen wir eigentlich Politik?«

Die ehemalige »Jacobin«-Chefredakteurin will Vorsitzende der Linken werden. Sie ist überzeugt: Die Partei ist noch zu retten. Aber wie eigentlich?

Ines Schwerdtner hat noch einen weiten Weg vor sich: Im Oktober will sie Vorsitzende der Linkspartei werden, bis dahin muss sie die Parteibasis von sich überzeugen.
Ines Schwerdtner hat noch einen weiten Weg vor sich: Im Oktober will sie Vorsitzende der Linkspartei werden, bis dahin muss sie die Parteibasis von sich überzeugen.

Vor einem Jahr haben wir schon einmal ein Interview geführt. An dem Tag sind Sie in die Linkspartei eingetreten und haben für die Europa-Liste kandidiert. War es von Anfang an der Plan, sich danach auf den Parteivorsitz zu bewerben?

Auf keinen Fall. Nachdem ich nach der Europawahl von vielen Genossinnen und Genossen dazu ermutigt wurde, habe ich überhaupt erst angefangen zu überlegen, ob ich mir eine Kandidatur vorstellen könnte. Ich habe mir diese Entscheidung alles andere als leicht gemacht und sie intensiv und lange abgewogen. Dann wollte ich auch erst mal Martin Schirdewan und Janine Wissler ihre Entscheidung in Ruhe treffen lassen.

Bei der EU-Wahl erzielte die Linkspartei ein katastrophal niedriges Ergebnis. Warum wollen Sie Vorsitzende einer Partei zu werden, die nach außen wie ein sinkendes Schiff wirkt?

Auch wenn das Ergebnis schrecklich war, der EU-Wahlkampf war für mich persönlich sehr bereichernd. Ich hatte die Möglichkeit, Kreisverbände zu besuchen, und bin mit vielen großartigen Genossinnen und Genossen in Kontakt gekommen. Dabei habe ich zum einen großen Unmut über den Zustand der Partei, zum anderen aber auch Hoffnung gesehen, dass es jetzt einen Aufbruch gibt. Meinen Wahlkampf haben viele als erfrischend und mobilisierend wahrgenommen – ich frage mich: Wie lässt sich das verallgemeinern? Etwas frischer Wind für den Bundestagswahlkampf kann sicher nicht schaden, um Die Linke zu erneuern.

»Vorwärts oder vorbei?«: Debattenserie über die Krise in der Linkspartei
25.08.2018, Sachsen, Hoyerswerda: Wimpel der Partei Die Linke mi...

Die Linkspartei steckt tief in der Krise, braucht neues Führungspersonal und dringend einen neuen Aufbruch. Aber wie und wohin? »nd« startet eine Debattenserie über Probleme und Perspektiven: »Die Linke – vorwärts oder vorbei?« Alle Texte der Serie finden Sie hier.

Wie denn genau?

Nach mehreren Wahlniederlagen ist klar: Wir müssen grundsätzlich etwas verändern. Und uns die Frage stellen: Für wen machen wir eigentlich Politik? Es sind die Menschen, die unter den Krisen leiden. Das war mal unser Kernklientel. Unser Job ist es, sie wieder zurückzugewinnen. Auf dem Parteitag müssen wir entscheiden: Ist das unser gemeinsames Ziel, diese Menschen zu erreichen? Und wie gehen wir das dann gemeinsam an? Wenn wir geschlossen vorangehen, kann man auch wieder viele Menschen zurückgewinnen.

Gab es denn nicht schon vorher die Entscheidung, sich für Krisenbetroffene einzusetzen?

Die Realität ist: Die Wählerschaft hat sich über die letzten Jahre verkleinert und ist akademischer geworden. Mir geht es nicht darum, keine Akademiker anzusprechen – ich bin auch eine. Aber wir müssen uns darauf zurückbesinnen, wo wir eigentlich herkommen. Das heißt: Wir müssen die arbeitenden Menschen in den Mittelpunkt stellen, die sonst von der Politik ausgeschlossen werden. Wenn man von diesem Standpunkt aus Politik macht, ändert sich die Art, wie man spricht, und welche Forderungen man erhebt. Wir haben in den vergangenen Jahren alle möglichen Gruppen angesprochen, ohne klar zu sagen, wer es eigentlich sein soll und wie wir an die Leute rankommen.

Und wie kommt man an die Leute ran?

Wir machen das bereits an den Haustüren, an Infoständen, aber wir müssen auch systematisch in die Wohngegenden, wo wir wissen, dass die Menschen Angst vor der nächsten Heizkostenabrechnung haben, und mit diesen Menschen in Kontakt kommen. Dafür braucht es konkrete Kampagnen, die wirklich mobilisieren – eine zum Thema Mieten und Wohnen zum Beispiel. Das kann erstens unsere Mitgliedschaft mobilisieren, und zweitens merken die Menschen wieder: Die Linke kümmert sich um uns und unsere Themen und dreht sich nicht nur um sich selbst.

Das ist die Strategie der KPÖ in Österreich, die Sie in Ihrem Wahlkampf im Osten auch verfolgt haben: Statt über Migration zu sprechen, einfach auf Themen wie Wohnen und Soziales umlenken. Jetzt sagten Sie, Die Linke braucht eine klare Migrationspolitik. Haben Sie Ihre Sicht also geändert?

Eigentlich nicht. Wir haben zur Migration die gleiche Haltung, die wir vorher schon hatten: Es geht darum, sichere Fluchtwege zu schaffen und Fluchtursachen zu bekämpfen. Wir halten Menschenrechte hoch, wo andere sie über Bord werfen. Das eine ist Migration, das andere sind die sozialen Verhältnisse, in die die Menschen kommen, und ernst zu nehmen, wie es den Leuten geht, die hier leben. Es ist die gleiche Antwort wie vorher auch, nur dass wir darüber in der Partei bisher zu wenig offen gesprochen haben – vielleicht auch aus Angst, etwas Falsches zu sagen. Da kommen wir aber jetzt nicht mehr drum herum.

Wie kann sich Die Linke dem Thema widmen, ohne dass der Eindruck entsteht, sie lasse sich in ihrer Agenda von den anderen Parteien treiben?

Die realen Probleme in den Kommunen sind da, das lässt sich nicht schönreden. Das liegt vor allem an der Unterfinanzierung durch den Bund. Und diese Haltung müssen wir konsequent vertreten, statt uns auf den Kulturkampf von rechts einzulassen und noch den letzten Bürgergeldempfänger gegen den geflüchtete Menschen aus der Ukraine auszuspielen, wie das die Bundesregierung tut. Die meisten sagen doch: Ich möchte nicht, dass Menschen im Mittelmeer ertrinken, ich sorge mich aber, dass es genug Kindergartenplätze gibt.

In Bautzen und Leipzig sind vergangene Woche Hunderte Neonazis aufmarschiert, die »Ausländer raus!« brüllen und sich positiv auf das Dritte Reich beziehen. In Thüringen kommt die von dem Rechtsextremen Bernd Höcke geführte AfD auf 30 Prozent. Lässt sich die offen rassistische Haltung zum Thema Migration wirklich mit einer besseren Klassenpolitik und ein bisschen mehr Geld für die Kommunen bekämpfen?

Ich halte an dem Punkt »Antifa heißt Wohlfahrtsstaat« fest. Aber wir müssen uns überlegen, wie wir mit einer überstarken AfD und damit umgehen, dass unsere eigenen Leute angegriffen werden. Was wir als Linke tun können: Orte zu schaffen, an denen eine andere Gemeinschaft möglich ist. Ich war vor Kurzem in meiner Geburtsstadt, im sächsischen Werdau, wo es ein sehr schönes Sommerfest gab. Dort hat die vietnamesische Community getanzt, man hat gemeinsam Essen gemacht, es gab ein Rap-Konzert und eine politische Diskussionsrunde, die angenehm war. Davon braucht es mehr. Momentan fehlt es uns an aktiven Mitgliedern und Strukturen; die können und werden wir aber wieder aufbauen.

Ein Grund, warum sich viele von der Linken entfernt haben, ist, dass sie als Streitpartei wahrgenommen wird. Wie wollen Sie mit den innerparteilichen Spannungen anders umgehen?

Je mehr wir gemeinsam Praxisarbeit machen, desto weniger Streit gibt es – wie zum Beispiel bei der Bundesarbeitsgemeinschaft »Die Linke hilft«, die wir kürzlich gegründet haben und bei der wir Genossinnen und Genossen ausbilden, Sozialsprechstunden anzubieten. Aber klar, über die großen Streitthemen, zum Beispiel die Außenpolitik, müssen wir diskutieren. Dann gilt es aber, Positionen gemeinsam zu entwickeln und diese dann eben auch gemeinsam zu vertreten. Die Querschüsse haben der Partei immer geschadet, und das muss sich einfach ändern in der politischen Kultur der Partei.

Es gibt den Realoflügel und den Bewegungsflügel, die ein grundsätzlich unterschiedliches Verständnis davon haben, wie Politik gemacht werden soll. Daraus entstehen immer wieder neue Konflikte …

Mein Eindruck ist, dass die Strömungen nicht mehr die gleiche Bedeutung haben, die sie vorher hatten. Ich würde das etwas runterdimmen und sagen: Können wir uns nicht darauf einigen, wen wir ansprechen wollen, und uns auf zwei, drei Kernthemen fokussieren? Wenn wir es im Oktober nicht schaffen, uns zu einigen, sind wir nicht fähig, diesen Bundestagswahlkampf zu führen. Das muss allen in der Partei klar sein.

Das Thema Nahost hat beispielhaft gezeigt, wie große Differenzen in der Partei Die Linke daran gehindert haben, eine klare Position zu formulieren. Deshalb hat Die Linke einige Wähler verloren, gerade aus der migrantischen Linken. Sie sagen, da muss man sich halt zusammenreißen?

Ich will nicht über die Widersprüche hinwegfegen. Aber ich glaube, wir sind klug genug, Positionen zu finden, die einer sozialistischen Partei würdig sind. Unsere Position als solche müssen wir gar nicht ändern, sondern sie nur viel mutiger vertreten. Das heißt, dass wir uns bedingungslos für das Völkerrecht und gegen Kriegsverbrechen aussprechen, auch wenn sie von Israel ausgeübt werden. Die Bundesregierung steht in der Pflicht, keine Waffen mehr zu liefern. Dass wir die Hamas-Verbrechen vom 7. Oktober ohne Wenn und Aber verurteilen, ist dabei selbstverständlich. Unser Platz ist an der Seite von linken Palästinensern und linken Israelis, die sich gegen den Krieg und für einen stabilen Frieden einsetzen.

Wie geht man mit denen um, die sich hinter die ultrarechte israelische Regierung stellen?

Ich kenne da niemanden in der Partei, der sich einfach so hinter eine Regierung stellt, die auch Zivilisten bombardiert.

Da haben wir einen unterschiedlichen Eindruck … Sie sprechen von einer sozialistischen Partei, werden aber unterstützt von den Bartsch-Linken in Sachsen-Anhalt, dem »rechtesten Flügel« in der Partei. Wie passt das mit Ihrer Forderung nach einem neuen Sozialismusbekenntnis und mehr Klassenkampf zusammen?

Ich glaube, es hat sich auch eine Art neuer Konsens herausgebildet. Die einen sind plötzlich für Klassenkampf, von denen man es gar nicht mehr gedacht hätte, und die anderen sagen, wir machen Sozialsprechstunden, auch wenn ihnen das vorher nicht revolutionär genug war.

Sie können also die Realos zu mehr Revolution bewegen?

(Lacht) Ja, und gleichzeitig die Revolutionäre davon überzeugen, dass sie tägliche politische Arbeit machen müssen. Ich würde mir eine größere Einheit wünschen. Die Klammer dafür ist nach wie vor der demokratische Sozialismus.

Wie wollen Sie die Partei davon überzeugen, dass Sie die richtige Kandidatin sind? Noch eine Bratwurst-mit-Bautzner-Senf-Tour?

In den nächsten Wochen steht erst einmal der Wahlkampf im Osten an. Ich kann unmöglich sagen, ich setze mich für einen starken Osten ein, und dann bei den Landtagswahlen nicht dabei sein. Danach werde ich so viele Kreisverbände wie möglich besuchen, diesmal aber auch verstärkt in Westdeutschland.

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