Epochal in der Regionalliga

Muss man sich Uwe Johnson als Regisseur eines hektischen Psychovideos vorstellen? Charly Hübner hat eine Hommage auf ihn verfasst

  • André Dahlmeyer
  • Lesedauer: 5 Min.
Bitte mal kurz nicken: das Rostocker Studienbuch von Uwe Johnson.
Bitte mal kurz nicken: das Rostocker Studienbuch von Uwe Johnson.

Wenn jemand, der nicht aus dem Genre oder aus der Branche kommt, plötzlich beginnt, Bücher zu schreiben, aus der Sicht eines Fans, kann man schon mal aufmerken. Der aus Fernsehen und Kino bekannte Schauspieler Charly Hübner ist so ein Autor. Durch seine Rolle als Kommissar Sascha Bukow im Rostocker »Polizeiruf 110« sowieso ein Vollsympath, veröffentlichte er 2021 »Charly Hübner über Motörhead – oder warum ich James Last dankbar sein sollte«. Jetzt überrascht der Neustrelitzer mit einer Hommage auf seinen Lieblingsautor Uwe Johnson, erschienen bei dessen altem Verlag Suhrkamp.

Anfang der 90er waren die meisten meiner Freunde Ostler, die meisten von ihnen verschlangen damals die »Jahrestage«, das vierbändige Hauptwerk von Uwe Johnson. So erging es ganz offensichtlich auch Charly Hübner, der nun sein schmales Bändchen in neun »Versuche« der Annäherung aus nicht-akademischer Sicht gegliedert hat. Gleich im ersten Satz des Buchs verwendet Hübner dreimal das Wörtchen »neulich«, das soll originell sein. Ich konnte nicht darüber lachen. Der Satz endet mit dem Ausruf: »Uwe Johnson ist eh der größte deutsche Schriftsteller des 20. Jahrhunderts.« Das habe er sich in einem Gespräch mit zwei Autoren sagen gehört. »Danach entstand eine nicht spannungslose Stille. Die Blicke der beiden Autoren froren ein.«

Bei der Ausrufung »größter deutscher Schriftsteller« fallen mir ad hoc Autoren wie Oskar Maria Graf, Erich Maria Remarque, Gisela Elsner, Alfred Döblin, Hans Fallada, Irmtraud Morgner, Brigitte Reimann, Elke Erb, Hermann Hesse, Heinrich Böll, Peter Wawerzinek, Ludwig Fels, Erich Kästner, Jörg Fauser, Hannah Arendt, Heinrich Mann, Bertolt Brecht, Wolfgang Hilbig, Christian Geissler und Michael Wildenhain ein. Verglichen mit denen ist Johnson Regionalliga. Toll, dass Hübner nicht »deutschsprachige« geschrieben hat, dann wäre das Chaos perfekt.

Er beschreibt Johnsons Erzählwerk unter anderem als »fein, schlau, brutal, episch, kompliziert, souverän, arrogant und empfindsam« und horcht »bei aller äußeren Stille in den Lärm der Johnson-Welt« hinein. Über die »Jahrestage« bemerkt er: »Eine Montage, die sich (…) als hektisches Psychovideo beschreiben ließe.« Johnson war für ihn »epochal«. Was ja, soweit ich weiß, noch kein Qualitätskriterium darstellt. Der eher nicht durch politische Kommentare im Rampenlicht aufgefallene Hübner verortet Johnsons Werke heutzutage noch als »hochpolitisch«. Zumindest in der SED-Führung mag man das einst ähnlich gesehen haben, interessierte sich Johnson doch auch für teilweise fließende Übergänge von Funktionsträgern des Nationalsozialismus zum DDR-System.

Wenn Hübner seinen Lieblingsautor quasi als Pionier des visuellen Erzählens und der schnellen Schnitte präsentiert, nicht ohne dabei seine eigene DDR-Sozialisation einzustreuen, fragt man sich: Und Rolf-Dieter Brinkmann oder Jörg Burkhard? Und noch nie was von Cut-up (frz. Découpé) gehört? Oder von Hans Arp oder Max Frisch?

Den Schauspieler fasziniert, wie Johnson die Perspektiven verschiedener Figuren in einem Absatz verwurschteln kann, wie er in »Jahrestage« das Mecklenburg der 20er/30er Jahre mit dem New York der 60er Jahre kombiniert. Anzumerken wäre, dass Johnson dieses New York so ähnlich beschreibt wie Alfred Döblin das Vorkriegsberlin in »Berlin Alexanderplatz«, und das war lange vorher.

Uwe Johnson setzte sich, knapp 25jährig, im Sommer 1959, die Schreibmaschine unter dem Arm, in Ostberlin in die S-Bahn und stieg in Westberlin aus. Der Verleger Siegried Unseld (Mitglied der Rotarier) hatte ihm ein Zimmer in Dahlem angemietet und damit das Aufnahmelager Marienfelde erspart. Außerdem hatte er der Amtsstelle für Zuzugsgenehmigungen in Zehlendorf eine Gehaltsbescheinigung angedeihen lassen. Im Herbst war dann Buchmesse in Frankfurt und bei Suhrkamp erschien »Mutmassungen über Jakob« und wurde neben Ernst Blochs »Prinzip Hoffnung«, Günter Grass’ »Blechtrommel« und Heinrich Bölls »Billard um halb zehn« von der erlauchten Kritik abgefeiert. Es dauerte keine drei Monate und Uwe Johnson war im Westen angekommen, als Dissident, als Überläufer mit dem gewissen exotischen Etwas im Kalten Krieg.

In Berlin zog er in die Nachbarschaft von Grass und Frisch. Letzterer beschreibt ihn in seinem »Berliner Journal« als verwundeten Puritaner, der gegen den »Überdruck der Gewissenhaftigkeit« vier Flaschen Wein am Abend trinke, um dann in assoziative »Kreuzworträtselei« abzudriften. Als er sich dann 1967 in New York neu zu erfinden versuchte, marschierten Mitglieder der neugegründeten »Kommune I« in seine Westberliner Atelier- und Arbeitswohnung ein, was er erst über die Medien erfuhr und dann seinen Kumpel Günter Grass bat, die Mischpoke polizeilich schleunigst entfernen zu lassen.

Ich war nie ein Johnson-Jünger. Er war mir zu (ost-)sperrig, inhaltlich diffus. Die westdeutsche Gruppe 47 war mir ein Graus. Ich gründete nach dem Mauerfall mit Freunden ein Netzwerk, das sich »Social Beat« nannte. Wir hatten genug davon, mit immer neuen alten Geschichtchen über den Nationalsozialismus traktiert zu werden, wir hatten eine Sucht nach Realität, nach Gegenwart, die Zeit der alten Männer war vorbei.

Uwe Johnson starb 1984 mit 49 Jahren auf einer englischen Insel. Er hatte sich mit allen überworfen und galt als paranoid. Manche sagten, er hätte ausgesehen wie Andy Warhol. Vielleicht hat er mit Gott telefoniert. Oder mit Ostberlin. Mecklenburgs – vielleicht unfreiwilliges – Aushängeschild Peter Wawerzinek sagte mir einmal auf Nachfrage, seine Macken seien »allerbeste tarnung dienliche angeberei«, also clever gewesen. Charly Hübner kann mit seiner Hommage sicher einige neue Leute für Johnson begeistern. Ich erlaube mir, den Johnson-Staffelstab von Wawerzinek an ihn weiterzuleiten: »er kam schweigend an die leute ran, wer schweigt, sagten sie, und nur kurz mal nickt, hat ahnung«.

Charly Hübner: »Wenn du wüsstest, was ich weiß …«. Suhrkamp, 125 S., geb., 20 €.

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