Das falsche Gedenken

Alex Demirović kritisiert das falsche Gedenken der Bundesrepublik.

Der rechte Verleger Götz Kubitschek (l) propagiert die »Metapolitik«.
Der rechte Verleger Götz Kubitschek (l) propagiert die »Metapolitik«.

Vor einigen Wochen wurde wieder einmal der Widerstandskämpfer der deutschen Wehrmacht gedacht, die am 20. Juli 1944 endlich einen Anschlag gegen Hitler geplant hatten.

Das Gedenken hat bisher wenig genutzt – so wenig wie deren Widerstand. Er kam zu spät. Deutschland führte damals schon fünf Jahre Krieg, unzählige Menschen waren bereits ermordet oder in die Zwangsarbeit verschleppt, zahlreiche Städte und Dörfer zerstört. Vielleicht war der Widerstand gar nicht mutig, töten war das Geschäft eines Teils der Widerständler. Böse kann man denken, dass der verspätete Widerstand wirklich Vorteile hatte: Das Risiko für das eigene Leben war hoch, aber man konnte Moral beweisen. Die Slawen waren unterjocht, die Juden waren schon vertrieben oder getötet, die Arbeiterbewegung zerschlagen, man konnte Europa erobern und nach eigenen Interessen formen und alle Vorteile genießen. Im Gedenken an diese Soldaten wurden wir in den 1960er Jahren schon erzogen. Niemand ließ uns wissen, dass Kurt von Hammerstein, bis 1933 Chef der Heeresleitung, durchaus erwogen hatte, gegen Hindenburg den Ausnahmezustand zu verhängen und Hitler zu verhaften. Aber aus Furcht vor einem Bürgerkrieg schreckte er zurück. Von Hammerstein fehlte die Fantasie sich vorzustellen, was die Nazis alles vollbringen würden. Was wären – gemessen an der Katastrophe, die folgte – wenige Zehntausend Tote eines Bürgerkriegs in Deutschland gewesen?

Alex Demirović

Alex Demirović stammt aus einer jugoslawisch-deutschen Familie; der Vater wurde von den Nazis als Zwangsarbeiter verschleppt. Wegen eines politisch motivierten Vetos des hessischen Wissenschaftsministeriums durfte Demirović in Frankfurt nicht Professor werden. Seitdem bewegt er sich an der Schnittstelle von Theorie und Politik. Jeden vierten Montag im Monat streitet er im »nd« um die Wirklichkeit.

In der Erinnerungspolitik heute werden die zentralen Fragen, die sich damals, aber auch nach dem Zusammenbruch des Faschismus stellten, nicht diskutiert. Dabei wäre es so dringend nötig. 1945 wusste der antifaschistische Widerstand, dass, wenn der Kapitalismus restauriert würde, der rechte Terror kein Ende haben würde. Die autoritären Aspekte des Kapitalismus würden sich erneut zur Geltung bringen. Aus der Demokratie heraus würde diese bedroht werden. Hitler hatte sich auf sie und die Freiheitsrechte berufen, heute wiederholt die AfD diesen manipulatorischen Trick.

Der Faschismus hat sich im Wissen um seine Niederlage erneuert; die neue Rechte ihre Strategien darauf eingestellt.

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Die Erinnerung in der bestehenden Form hat wenig genutzt. Man konnte es bei einer Gedenkfeier unlängst sehen. Als Bundespräsident Steinmeier zum Widerstand des 20. Juli und unter allgemeinem Applaus von der Notwendigkeit sprach, die Demokratie zu verteidigen, rührten die Vertreter*innen der AfD keine Hand, schauten mit steinerner Miene. Gern wird davon gesprochen, dass es eine Befreiung vom NS-Regime gegeben habe. Doch das ist weniger als die halbe Wahrheit. Es war eine Niederlage des nationalsozialistischen Deutschlands. Von Emigranten war das gewollt: Die Nazis und ihre Mitläufer sollten die Niederlage erleben, sollten erfahren, dass die Demokratien stärker sind, die faschistische Ideologie sollte endgültig besiegt werden. Das allerdings hat nicht stattgefunden. Der Faschismus hat sich im Wissen um seine Niederlage erneuert; die neue Rechte ihre Strategien darauf eingestellt. Seit vielen Jahren verfolgt sie eine »Metapolitik«: Zunächst soll das Denken der Menschen geändert werden. Der Kampf geht gegen den »Kulturmarxismus«, gegen politische Korrektheit, gegen Kritik an Männlichkeit und gegen queeren Feminismus. Es werden Zweifel an der Demokratie und dem mühsamen Prozess des Aushandelns und der Kompromissbildung genährt.

Sehr erfolgreich ist die Strategie der Verharmlosung. So sagt der sächsische Ministerpräsident naiv, nicht alle, die AfD wählten, seien Nazis. Man muss es für einen kurzen Moment auf 1933 und 1945 übertragen. Waren damals alle Nazis? Die NSDAP konnte bei den Reichstagswahlen im März 1933 von den 39,3 Millionen abgegebenen Stimmen 17,3 Millionen Wähler*innen für sich gewinnen. Die Parteien der rechten Mitte waren mit ca. 5 Millionen Stimmen schwach. Die linken Parteien, deren Mitglieder schon jahrelang terrorisiert worden waren, erhielten immer noch 12 Millionen. Es waren die Mitläufer*innen, die Hitler den Rücken stärkten. Auch damals konnte man wissen, wie folgenreich die Politik der Nazis sein würde, Warnungen gab es genug. Heute hat man nicht nur das Wissen, sondern auch die historischen Erfahrungen: der Morde, des Terrors, der Zerstörung. Auch die aktuellen Erfahrungen gibt es: die Schläger der Rechten, die Angriffe auf gewählte demokratische Politiker*innen, die Übergriffe der Polizei auf Antifaschist*innen. Dennoch wollen sich bei den anstehenden Landtagswahlen laut Umfragen die relativ meisten Wähler*innen für Höckes Partei entscheiden. Noch einmal folgen sie ihnen in den Prozess der Zerstörung. Was wird werden, wenn die Höckes und Kubiceks und Weidels wirklich die Gelegenheit bekommen, zehn oder fünfzehn Millionen Menschen die Staatsbürgerschaft abzuerkennen und sie abzuschieben?

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Erfolgreich ist auch die Strategie der Spaltungen durch das Gerücht über die Verlässlichkeit der Mitte: Feminismus und Antisemitismus, Rassismus und Antisemitismus, Linke und Antisemitismus. Die Mitte sei die Vernunft, so behauptet Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden. Diese Mitte und diese Vernunft würden von der extremen Linken und der extremen Rechten zerstört. Doch es waren die Linken wie Georg Lukács und Max Horkheimer, die vor der Zerstörung der Vernunft durch die Mitte warnten. Das müsste im Zentrum der Erinnerungskultur stehen: Wer vom Kapitalismus nicht reden will, sollte vom Faschismus und all dem, was mit ihm verbunden ist, dem Antisemitismus, dem antimuslimischen Rassismus, dem Konformismus schweigen.

Es braucht einen neuen Versuch der kritischen Erinnerungskultur. Anstatt Antifaschist*innen zu diskreditieren, zu stigmatisieren, polizeilich und juristisch zu verfolgen, ist eine Änderung der öffentlichen Kultur notwendig. Wir brauchen keine Talkshows und Gespräche mit Weidel, Chrupalla, Höcke – sondern neue Formate, die es erlauben, zur besten Sendezeit diejenigen berichten und analysieren zu lassen, die täglich den Rassismus und den Faschismus in Deutschland bekämpfen: die Vertreter*innen der Gedenkstätten, die Lehrer*innen, die Linken, die Aktiven in antifaschistischen und antirassistischen Gruppen, die Angehörigen von NSU-Opfern, der jüdischen Gemeinden, der Sinti und Roma. Parteilich und engagiert. Wir benötigen eine ganz andere Art der öffentlichen Diskussion.

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