Studie zum 1. Weltkrieg: Völkische Feldbereinigung

Bernhard Sauer hat zum 110. Jahrestag des Ersten Weltkrieges eine eindrucksvolle Monografie verfasst

  • Tim König
  • Lesedauer: 5 Min.
Opferreiche Stellungskriege waren typisch für den Ersten Weltkrieg
Opferreiche Stellungskriege waren typisch für den Ersten Weltkrieg

Um es vorwegzunehmen: Es ist eine rein rhetorische Frage, mit der Bernhard Sauer sein Buch zur »Urkatastrophe« des 20. Jahrhunderts titelte. Doch von Anfang an.

»Der Erste Weltkrieg war der bislang umfassendste Krieg der Geschichte. 40 Staaten beteiligten sich an ihm. Aufseiten des Deutschen Kaiserreiches kämpften Österreich-Ungarn, das Osmanische Reich und Bulgarien gegen Frankreich, Großbritannien, Russland, Serbien, Belgien, Italien, Rumänien, Japan und die USA. 20 Millionen Menschen verloren durch ihn ihr Leben. 21 Millionen wurden verwundet. Der Tod eines Mannes und einer Frau in Sarajevo haben zum Tod von Millionen geführt. Wie konnte das geschehen?«

Dieser Frage geht der Autor, Jahrgang 1949, von Beruf Lehrer, nach, der am Zentrum für Antisemitismusforschung über die »Schwarze Reichswehr« promovierte und mehrere respektable Veröffentlichungen zur Geschichte der Freikorps, der NSDAP und SA verfasst hat. Rechtzeitig vor dem 110. Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkriegs nun diese akribisch recherchierte, sich auf zahlreiche Quellen stützende und sowohl die Literatur von DDR- wie BRD-Historikern einbeziehende Studie.

Am 28. Juni 1914 wurden der österreichische Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand und seine Gemahlin in Sarajevo von dem bosnisch-serbischen Gymnasiasten Gavrilo Princip erschossen. Deren Besuch in der bosnischen Hauptstadt, so der Autor, war ein schlecht gewählter Termin. An diesem Tag, dem St. Veitstag, hatten im Jahr 1389 osmanische Verbände ein serbisches Heer auf dem Amselfeld vernichtend geschlagen und damit die Ära des serbischen Reiches auf dem Balkan beendet – seither der wichtigste Gedenktag der Serben, an dem sie traditionell an den Kampf gegen die osmanische Fremdherrschaft erinnerten. Ein Affront also für die nun unter der K.-u.-k.-Herrschaft leidenden Serben. Zumal Franz Ferdinand kurz zuvor einem Truppenmanöver der österreichisch-ungarischen Streitkräfte in Bosnien beigewohnt hatte. Eine Provokation für stolze Serben und Bosnier.

Doch war dies die Ursache für die nun folgenden gegenseitigen Kriegserklärungen der europäischen Großmächte? »In der Vorkriegszeit hat es mehrere Krisen und auch wiederholt Attentate gegeben.« Keine Frage, das Deutsche Kaiserreich eröffnete diesen ersten großen Weltenbrand. Aber tatsächlich nur zu seiner Verteidigung, wie die Regierung in Berlin verlauten ließ? Und, für Sauer die noch wichtigere Frage: »Hätte der Krieg verhindert werden können?«

Die sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien Europas haben auf ihren Konferenzen wiederholt beschlossen, sich mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln gegen den drohenden Krieg zu stellen. Die Frage, wie er verhütet werden kann, war schon Thema auf dem Gründungskongress der II., der Sozialistischen Internationale 1889 in Paris. Deren Stuttgarter Kongress 1907 beschloss eine umfangreiche Resolution, in der es unter anderem hieß: »Kriege zwischen kapitalistischen Staaten sind in der Regel Folgen ihres Konkurrenzkampfes auf dem Weltmarkt, denn jeder Staat ist bestrebt, sein Absatzgebiet nicht nur zu sichern, sondern auch neue zu erobern, wobei Unterjochung fremder Völker und Länder eine Hauptrolle spielt.«

Die sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien verpflichteten sich, gegen die Rüstung zu Wasser und zu Lande zu kämpfen und die Jugend der Arbeiterklasse im Geiste der Völkerverständigung zu erziehen. Solch klare Worte wünschte man sich von der internationalen Linken heute. Doch trotz machtvoller Friedenskundgebungen, Demonstrationen und Streiks in fast allen europäischen Staaten ließ sich die organisierte Arbeiterbewegung von Nationalismus und »Hurra«-Patriotismus einfangen, die SPD bekanntlich mit ihrer fatalen Burgfriedenspolitik. Einige wenige prominente Vertreter wie in Deutschland Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg hielten die Fahne des Internationalismus aufrecht. Sauers Monografie ist auf die deutschen Zustände fokussiert.

Der Autor reflektiert die Julikrise 1914 und den Ausbruch des Krieges am 1. August sowie die Kriegssziele des Kaiserreichs. Wilhelm II. behauptete in seiner Rede am 4. August 1914 im Reichstag: »Uns treibt nicht Eroberungslust.« Und tatsächlich glaubte die Mehrheit des deutschen Volkes, Opfer einer »Einkreisung« feindlich gesinnter Mächte zu sein. Die Kriegspropaganda des Alldeutschen Verbandes und anderer rechter Kräfte hatte gefruchtet, die eigentlichen Absichten und treibenden Kräfte der Schwerindustrie und Bankenwelt verschleiernd.

Gemäß dem am 9. September 1914 von Reichskanzler Bethmann Hollweg vorgelegten geheimen Kriegszielprogramm galt es, die Vorherrschaft Deutschlands in Mitteleuropa auf erdenkliche Zeit zu sichern, für die Alldeutschen »zu eng gesteckt«. In ihren am 5. Mai 1915 verabschiedeten Leitsätzen wurde gefordert: »Wie im Osten, so dürfe auch im Westen der nichtdeutschen Bevölkerung kein politischer Einfluss gewährt werden; industrielle Unternehmungen sowie größerer und mittlerer Landbesitz seien deutschen Staatsbürgern zu übereignen.« Im Osten sollte eine »völkische Feldbereinigung« vorgenommen werden. Da ist auch schon der Zweite Weltkrieg antizipiert.

Sauer zeichnet exakt den Kiegsverlauf nach, von der Marne-Schlacht über die Schlachten an der Ostfront und zurück im Westen vor Verdun und an der Somme. Er informiert über die Hintergründe der Wechsel in der Obersten Heeresleitung und die schließliche De-facto-Militärdiktatur unter Hindenburg und Ludendorff. Auch der U-Boot-Krieg ist nicht vergessen. Ebenso wenig der erste, erpresserische »Friedensvertrag« mit dem jungen Sowjetrussland in Brest-Litowsk vom 3. März 1918.

Am 2. September 1918 gestand Ludenforff ein: »Wir haben keine Aussicht mehr, den Krieg noch zu gewinnen.« Um sogleich die Schuld den zivilen Kräften in der »Heimat« zuzuschieben; diese sollten nun auch die Suppe auslöffeln, »die sie uns eingebrockt haben«. Damit war der Grundstein für die »Dolchstoß«-Legende gelegt, konstatiert der Autor. Den Waffenstillstand von Compiègne ließen die Militärs denn auch Regierungsvertreter unterzeichnen. Das Deutsche Kaiserreich, das geschmiedet worden war vom Eisernen Kanzler Otto von Bismarck mit Blut und Eisen, das aus drei Kriegen hervorging, die der preußische Junker angezettelt hatte, ging nun in einem Krieg unter. Von der Novemberrevolution hinweggefegt.

Fast 20 Seiten widmet der Autor Adolf Hitler, der den Ersten Weltkrieg begeistert begrüßt hatte und mit seinen Kumpanen von Anfang an auf eine Revision der Beschlüsse der Versailler Friedenskonferenz drängte. Wobei er nicht lediglich die Grenzen vor 1914 wiederherzustellen, sondern einen Eroberungs- und Beutekrieg zu führen gedachte. Und in dessen Augen die Völker Europas »uns gegenüber in erster Linie die Aufgabe haben, uns wirtschaftlich zu dienen«.

In seiner Schlussbetrachtung resümiert Sauer überraschend, dass die Politik der deutschen Regierung »sicherlich nicht auf einen Weltkrieg ausgerichtet« war. Dafür sei sie zu unentschlossen und widersprüchlich gewesen. Um sodann jedoch zu betonen: »Ist nun das deutsche Kaiserreich in den Krieg geschlittert? Keineswegs!«

Bernhard Sauer: Der Erste Weltkrieg ein Verteidigungskrieg? Duncker & Humblot, 188 S., geb., 49,90 €.

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