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Neuer Arbeitsrekord trotz Flaute
Wo zusätzliches Personal eingestellt wird, obwohl die Wirtschaft stagniert
Erwerbstätige haben von April bis Juni insgesamt 14,7 Milliarden Stunden gearbeitet – das ist ein neuer Rekord. »In Deutschland wurde noch nie so viel gearbeitet – mitten im Wirtschaftsabschwung«, sagte der Forscher Enzo Weber vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), das die Daten erhebt. Welche Trends stecken hinter diesem Höchstwert?
Die Rekorde
Zusammen mit dem Arbeitsvolumen ist im zweiten Quartal die Zahl der Erwerbstätigen weiter gestiegen, auf 46 Millionen abhängig Beschäftigte inklusive Minijobber*innen sowie Selbstständige. Auch das ist ein neuer Rekord. Die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Jobs wächst ebenfalls seit Jahren, wobei der Anstieg zuletzt im Jahresvergleich schwächer war als früher. Die Vollzeitbeschäftigung geht seit wenigen Monaten leicht zurück, während die Zahl der Teilzeitbeschäftigten unvermindert steigt.
Der viel gepriesene Beschäftigungsrekord war trotz der Alterung der Gesellschaft aus zwei Gründen möglich: Erstens sind insbesondere Frauen und Ältere öfter berufstätig. Insgesamt waren laut Statistischem Bundesamt zuletzt 77 Prozent der Menschen im Alter zwischen 15 und 64 Jahren erwerbstätig – ein weiterer Höchststand. Zweitens spielen Migrant*innen eine zunehmende Rolle. So ist die Zahl der ausländischen Arbeitnehmer*innen in den vergangenen fünf Jahren um 1,4 Millionen gestiegen, bei den Deutschen betrug der Zuwachs lediglich 0,2 Millionen. Denn die Zahl der Deutschen im erwerbsfähigen Alter hat über viele Jahre stagniert. Jetzt sinke sie sogar um rund 400 000 Personen pro Jahr, sagte der IAB-Migrationsforscher Herbert Brücker bereits im Frühjahr.
Wo Beschäftigung wächst
Gestiegen ist die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung im Dienstleistungssektor, insbesondere in relativ konjunkturunabhängigen Bereichen wie Erziehung und Unterricht, Altenpflege und Gesundheitswesen. Dort wird auch jetzt, wo die Wirtschaft stagniert, zusätzliches Personal benötigt, das Menschen pflegt und sich um Kinder kümmert.
In der Baubranche ging die Beschäftigung hingegen zurück, ebenso in der Industrie, wo sie schon ab 2019 schrumpfte. So gab es Ende 2023 im verarbeitenden Gewerbe rund 216 000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte weniger als fünf Jahre zuvor. Im laufenden Jahr setzte sich der Rückgang fort, etwa in der Metall- und Chemieindustrie. Oft gingen hier gute Jobs verloren, sagt der Arbeitsmarktforscher Gerhard Bosch von der Universität Duisburg-Essen dem »nd«. Wer keine Einschränkungen habe, finde zwar meist eine andere Stelle, die aber oft schlechter bezahlt sei. Gerade bei den Autozulieferern hätten viele Angst vor Entlassungen.
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Und nicht nur dort. Anfang dieser Woche wurde bekannt, dass VW seinen Sparkurs verschärfen will. Laut »Handelsblatt« strebt das Management an, dass durch Einsparungen die Rendite der Kernmarke von 2,3 auf 6,5 Prozent steigt. Dafür wolle der Konzern die Beschäftigungsgarantie für die westdeutschen VW-Werke aufkündigen. Erstmals stünden auch ganze Werke zur Disposition. Der Betriebsrat hat Widerstand angekündigt.
In den wachsenden Dienstleistungsbranchen werden hingegen weiterhin Arbeitskräfte gesucht. Dort sind die Gehälter oft niedriger als in der Industrie, wobei sich in manchen Berufen inzwischen etwas getan hat. So seien in der Pflege die Löhne angesichts der Knappheit bereits überdurchschnittlich gestiegen, sagt Enzo Weber dem »nd«. »In der Erziehung war das nicht der Fall.« In diesem stark staatlich geprägten Bereich »muss nachgelegt werden«, fordert der Arbeitsmarktforscher.
Gerade der Bedarf an Erzieher*innen wird weiter steigen, auch, weil das Parlament einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung an Grundschulen beschlossen hat, der ab 2026 zunächst für Erstklässler gelten soll. Auch für andere soziale Dienstleistungen wie die Altenpflege wird absehbar mehr Personal gebraucht. Hier kommt hinzu, dass die Entgelte von regulär beschäftigten Fachkräften zwar gestiegen sind. Allerdings arbeiten immer noch zahlreiche Frauen aus Osteuropa, die alte Menschen zu Hause betreuen, unter äußerst prekären Bedingungen. Derzeit dürften rund 700 000 Frauen in solchen Haushalten erwerbstätig sein, schätzt Justyna Oblacewicz von der bundesweiten Beratungsstelle für Arbeitsmigrant*innen aus Osteuropa, Faire Mobilität. Die Ampel-Koalition hat in ihrem Koalitionsvertrag zugesichert, eine »rechtssichere Grundlage für die 24-Stunden-Betreuung im familiären Bereich« zu schaffen. Das steht noch aus.
Die Finanzierungsfrage
Für Bildung, Erziehung und soziale Dienstleistungen werden demnach mehr Mittel benötigt. Und woher sollten die kommen? Um in Kitas und Ganztagsschulen ausreichend investieren zu können, »müssen wir aus der Schuldenbremse raus«, betont der Sozialforscher Bosch. Er hält dies für dringend geboten, schließlich sei das Bildungsniveau der Kinder entscheidend für die künftige Entwicklung der Gesellschaft. Zudem seien wirksame Steuererhöhungen am oberen Ende nötig, denn derzeit würden Reiche nicht effektiv besteuert. Eine mehr oder weniger starke Lockerung der Schuldenbremse wird inzwischen von vielen Ökonom*innen unterschiedlicher Couleur befürwortet. CDU, FDP und AfD lehnen dies indes strikt ab.
In der Pflege- und Krankenversicherung ließe sich die Finanzlage durch eine im Prinzip einfache Regelung verbessern, auf die der Sozialforscher Gerhard Bäcker hinweist: Der Gesetzgeber kann die Versicherungspflichtgrenze aufheben. Dadurch wären alle abhängig Beschäftigten gesetzlich versichert, Menschen mit hohem Einkommen (und geringerem Krankheitsrisiko) würden ebenso wie Personen mit niedrigem Gehalt Beiträge in die Kassen zahlen. Besserverdienende Angestellte könnten sich also nicht mehr in eine Privatversicherung verabschieden. Diese bliebe zunächst Beamten und Selbständigen vorbehalten. »Das wäre ein großer Schritt in Richtung Bürgerversicherung«, sagt Bäcker, für die sich in den vergangenen Jahren Grüne, SPD und Linkspartei eingesetzt haben. Menschen mit hohen Einkommen würden sich so stärker an den Aufwendungen für Gesundheits- und Pflegedienstleistungen beteiligen. Derzeit ist dafür keine Mehrheit in Sicht. Stattdessen ist die Spardebatte wieder in vollem Gange. Weil der Pflegebedarf trotzdem da ist, werden die Kosten wohl wie gewohnt verteilt: In der Kranken- und Pflegeversicherung erwartet Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) höhere Beiträge für derzeit Pflichtversicherte. Gleichzeitig müssen die Betroffenen in der Altenpflege hohe Eigenbeiträge zahlen.
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