Prozesse gegen ein »Börsenwunder«

Die juristische Aufarbeitung der Betrügereien bei Wirecard kommt voran – ein Zwischenfazit

Ex-Vorstandschef Martin Braun im Gerichtssaal
Ex-Vorstandschef Martin Braun im Gerichtssaal

Wirecard war einst als »Börsenwunder« gehandelt worden. Politiker sahen in dem weltweit agierenden Zahlungsdienstleister aus dem oberbayerischen Aschheim einen Gegenspieler zu den US-amerikanischen Tech-Giganten. Bundeskanzlerin Angela Merkel warb sogar während einer Reise nach Peking bei der chinesischen Regierung für einen Markteintritt der Wirecard AG. Doch dann kam es zum Knall: Nachdem sich angebliche Guthaben über 1,9 Milliarden Euro auf den Philippinen als nicht existent erwiesen hatten, rutschte der Konzern im Juni 2020 in die Insolvenz. Mit Scheingeschäften soll das Unternehmen seinen Umsatz künstlich aufgebläht, es so zu immer neuen Krediten und bis in den Aktienindex Dax geschafft haben. Außerdem blieben die Betrügereien über einen langen Zeitraum unentdeckt, was ein schlechtes Licht auf die Wirtschaftsprüfer wirft. Einer der größten Wirtschaftsskandale der deutschen Nachkriegsgeschichte war perfekt. Die Arbeit verschiedener Staatsanwaltschaften begann. Gegen die Verantwortlichen laufen zahlreiche straf- und zivilrechtliche Verfahren.

In dieser Woche fielen gleich zwei wichtige juristische Vorentscheidungen. So bleibt der Hauptangeklagte im großen Wirecard-Strafprozess, Ex-Vorstandschef Markus Braun, in Untersuchungshaft. Die Voraussetzungen dafür seien weiterhin gegeben, denn es bestehe Flucht- und Verdunkelungsgefahr, teilte am Mittwoch das Landgericht München I mit. Der Vollzug der Untersuchungshaft sei verhältnismäßig. Der gebürtige Wiener ist zusammen mit zwei Vorstandskollegen wegen gewerbsmäßigen Bandenbetrugs, Untreue, Marktmanipulation und unrichtiger Darstellung angeklagt.

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Braun sitzt seit dem 22. Juli 2020 in Untersuchungshaft, der Strafprozess um die Pleite läuft seit Dezember 2022. Nach Angaben des Landgerichts beantragte der Ex-Manager im Juli eine Haftprüfung, die am 19. August stattfand. Am Dienstag habe das Gericht dann die weitere U-Haft angeordnet. In der Begründung heißt es: Die »bestreitende Einlassung« des Angeklagten sei in der Beweisaufnahme »bislang nicht bestätigt worden«. Die Richter gehen demnach offenbar von der Schuld Brauns aus, obwohl er nach wie vor bestreitet, von den Betrügereien in Asien gewusst zu haben. Im Falle einer Verurteilung drohen dem jahrelang auch von vielen Medien hofierten Ex-Spitzenmanager des insolventen Technologiekonzerns lange Jahre Haft.

Seit Februar wurde, ebenfalls am Landgericht I in München, eine sogenannte Organhaftungsklage des Insolvenzverwalters Michael Jaffé verhandelt, der Geld für die Gläubiger von Wirecard sichern will. Beklagt sind auch hier frühere Vorstände von Wirecard, darunter Braun. Die 5. Kammer für Handelssachen unter dem Vorsitz von Helmut Krenek sollte klären, ob bei der Vergabe eines Darlehens an ein asiatisches Partnerunternehmen im Herbst 2019 und der Zeichnung einer Schuldverschreibung Pflichtverletzungen begangen wurden und somit die Voraussetzungen für eine persönliche Haftung vorliegen. Einen Vorsatz braucht es dabei nicht, Vorstände und Aufsichtsräte einer Aktiengesellschaft haften schon bei Fahrlässigkeit.

Am Donnerstag fiel das Urteil: Drei ehemalige Wirecard-Vorstände müssen insgesamt 140 Millionen Euro Schadenersatz leisten, plus Zinsen. Die Richter werteten den Vorgang als »ungesicherte Kreditvergabe an einen finanzschwachen Vertragspartner«, »unvertretbares Risiko« und Verstoß gegen »die Sorgfaltspflicht eines ordentlichen Geschäftsmanns«. Das Partnerunternehmen habe seinerzeit bereits Rückstände in Millionenhöhe angehäuft, und es lief eine vom Aufsichtsrat beauftragte Sonderprüfung, da bereits Zweifel daran bestanden, ob die Geschäfte des asiatischen Unternehmens überhaupt existierten. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Prozessbeobachter rechnen damit, dass es Berufungen geben wird.

Markus Braunsitzt seit dem22. Juli 2020 inUntersuchungshaft.

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Auch bei einer Bestätigung ist aber ungewiss, wie viel Geld der Insolvenzverwalter letztlich bekommen kann. So zahlen Manager-Haftpflichtversicherungen bei Straftaten von Vorständen nicht. Diese haften daher unter Umständen mit ihrem Privatvermögen. Doch dem ehemaligen Millionär Braun – als Aktionär von Wirecard war er zeitweise sogar virtueller Milliardär – scheint das Geld auszugehen: Im Sommer legte sein prominenter Strafverteidiger Alfred Dierlamm das Mandat nieder, weil nach Medienberichten »der Topf leer« gewesen war.

Der Fall Wirecard könnte sich wie der milliardenschwere Steuerbetrug um Cum-Ex-Geschäfte zu einer gewissermaßen unendlichen Geschichte ausweiten. Allein am Landgericht München sind Tausende Wirecard-Verfahren in Zivil- und Strafrecht eingegangen. Insolvenzverwalter Jaffé und geschädigte Anleger versuchen außerdem, Schadenersatz von Haftpflichtversicherern und Wirtschaftsprüfern einzuklagen. Tausende Aktionäre haben ein Musterklage-Verfahren vor dem Obersten Landesgericht in Bayern angestrengt. Im Mittelpunkt steht die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY (früher Ernst & Young), die jahrelang die Bilanzen von Wirecard testiert und durchgewunken hatte.

Wenigstens politisch erzielt der Wirecard-Skandal bereits Wirkung. Nach dem Bekanntwerden forderte der damalige Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) nicht nur wie sonst üblich eine stärkere Kontrolle durch den Staat, sondern leitete diese auch in die Wege. Dafür wurde vor allem die Bundesfinanzaufsicht Bafin personell neu aufgestellt, die zudem größere Handlungsmöglichkeiten bekommen hat. Verbraucherschützer und linke Finanzmarktexperten halten dies zwar noch nicht für ausreichend, meinen aber, dass zumindest die Richtung stimme.

Die wichtigsten Details der Betrügereien bei Wirecard scheinen auch durch die juristischen Verfahren mittlerweile aufgeklärt zu sein. Was bleibt, ist vor allem die Frage: Wer wusste wann was und wer hat den Betrug in die Wege geleitet? Einige Angeklagte zeigen dabei am liebsten auf Jan Marsalek – der per internationalem Haftbefehl gesuchte frühere Vertriebsvorstand gilt als eine der Schlüsselfiguren und ist praktischerweise untergetaucht, vermutlich in Russland.

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