Hoffen, worauf?

Zwischen Nebbich und großer Kunst: Eindrücke von der Ruhrtriennale

  • Jürgen Schneider
  • Lesedauer: 5 Min.
Vielleicht die deutsche PJ Harvey: Sandra Hüller
Vielleicht die deutsche PJ Harvey: Sandra Hüller

Die diesjährige Ruhrtriennale unter der Intendanz von Ivo van Hove steht unter dem Motto »Longing for Tomorrow – Sehnsucht nach morgen«. Wonach genau wir uns sehnen sollen, bleibt allerdings unbestimmt. Beim TV-Schmunzelkrimi »Mord mit Aussicht« ist man da ein wenig weiter, wenn ein Darsteller sagt: »Hoffentlich wird es nicht so schlimm, wie es schon ist.«

Zum Auftakt der Ruhrtriennale brachte der Festivalleiter unter dem Titel »I Want Absolute Beauty« ein inszeniertes Rockkonzert auf die Bühne. Die Schauspielerin Sandra Hüller, »eine Naturgewalt« (van Hove), sang Songs der britischen Indie-Sängerin Polly Jean Harvey, Material aus deren Alben der 90er und nuller Jahre, unterstützt von Videos auf einer Großleinwand und der achtköpfigen Tanz-Company (La) Horde. Die Bühne in der Jahrhunderthalle Bochum war ein mit Erde bestreutes Feld, auf dem die Tänzer Kriegsszenen ebenso überzeugend darzustellen wussten wie sexuell konnotierte Momente. Die Setlist dieser Education sentimentale gliederte sich in vier Kapitel: Grow, Love and Personal and Political Disappointments, Big Exit und Back Home, gesetzt in 26 Songs von PJ Harvey.

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Die Schauspielerin Hüller erwies sich als grandiose Sängerin, die sich bravourös der ganzen Rockmusikskala bediente, von gebrüllten bis zu sanften Tönen. Kurz vor Ende ihrer Performance erschien in einer Art Weichzeichnung das Gesicht der französischen Schauspielerin Isabelle Huppert auf der Leinwand. Ihr Versuch, einen Song darzubieten, war in seinem Misslingen äußerst charmant.

Huppert durfte im Rahmen der Ruhrtriennale auch in der Kraftzentrale im Landschaftspark Duisburg-Nord in Racines »Bérénice«, inszeniert von Romeo Castellucci, monologisierend glänzen, mit wenig spektakulären, aber auf das Genaueste eingesetzten schauspielerischen Mitteln. »Bérénice« handelt davon, dass sich der römische Kaiser Titus in die titelgebende Königin, eine syrische Hasmonäerin, verliebt und feststellt, dass sie seine Liebe erwidert. Doch ein Verdikt des römischen Imperiums verbietet es Titus, sie zu heiraten. Der römische Schriftsteller Sueton (um 70 bis circa 122) schrieb: »Titus entließ die Königin Berenice, der er sogar die Ehe versprochen haben soll, alsbald aus Rom gegen seinen und ihren Wunsch.« Ihre Liebe wird der Staatsräson geopfert. In »Erziehung nach Auschwitz« schrieb Theodor W. Adorno 1966, ein so respektabler Begriff wie der der Staatsräson sei kritisch zu behandeln: »[I]ndem man das Recht des Staates über das seiner Angehörigen stellt, ist das Grauen potenziell schon gesetzt.« Huppert gelang es, jenes Grauen zu evozieren, das durch die staatliche Verunmöglichung der Liebe hervorgerufen ward.

Mit der großspurigen Überschrift »Die Geburt der Ästhetik aus dem Geiste des politischen Denkens« kündigte der Regisseur Krystian Lada seine begehbare Installation »Abendzauber« an, die auf unterschiedlichen Etagen der Mischanlage der Kokerei des Zollvereins Essen präsentiert wurde. Das Chorwerk Ruhr brachte dort Werke von Anton Bruckner und der isländischen Sängerin Björk zur Aufführung. Thematisch ging es um das Verhältnis von Mensch und Natur. Dem Autor dieser Zeilen wurde der Zugang zu dieser »immersiven Installation« allerdings verwehrt – seines Gehstocks wegen. Dieser wurde als »loser Gegenstand« identifiziert. Ein solcher könnte aus der Hand entgleiten und die Aufführenden verletzen, lautete die Begründung. Andere lose Gegenstände, wie etwa Sehhilfen oder Handtaschen, wurden nicht als Sicherheitsrisiko eingestuft. Kaum auf dem Installations-Parcours angekommen, so berichtete meine stocklose Begleiterin, entnahmen einige Besucherinnen und Besucher den Handtaschen ihre Smartphones, die ebenfalls als lose Gegenstände zu bezeichnen wären. Der Chorgesang sei schön gewesen, die Inszenierung allerdings weniger, so die Schilderung meiner Begleiterin. »Nebbich« lautete ihr Urteil über den Einfall, ans Ende des Parcours ein Kind zu setzen, das Sätze der Klimaaktivistin Greta Thunberg aufsagen musste.

Julius Eastman (1940–1990) war ein schwarzer und schwuler Komponist, Pianist, Sänger und Tänzer. Er wuchs in Ithaca im Bundesstaat New York auf. Dort begann er im Alter von 14 Jahren mit Klavierunterricht; 1959 wurde er am renommierten Konservatorium Curtis Institute of Music in Philadelphia zum Studium zugelassen – Klavier und Komposition. Ende der 60er Jahre fand er seinen Platz in einer von Weißen dominierten Szene – der Avantgarde Neuer Musik in Buffalo und New York. Eastman bereicherte die minimalistische Musik, die vor allem mit den weißen Komponisten Philip Glass und Steve Reich assoziiert wird. 1981 wurde seine New Yorker Wohnung von der Polizei geräumt. Eastman war fortan obdachlos. Am 28. Mai 1990 erlitt er mit nur 49 Jahren einen Herzstillstand. Erst Monate später erschien ein erster Nachruf auf ihn.

Der Komponistin Mary Jane Leach ist seine Wiederentdeckung in den nuller Jahren zu verdanken. Eastmans Musik folgt einem »organischen Prinzip«, demzufolge jeder neue Abschnitt eines Werks sämtliche Informationen der vorangegangenen Abschnitte enthalten sollte. Dieses Prinzip findet sich in den um 1979 entstandenen Werken für vier Klaviere umgesetzt, in »Evil Nigger«, »Gay Guerilla« und »Crazy Nigger«. Als Eastman die Kompositionen 1980 in Chicago auf die Bühne bringen wollte, durften ihre Titel des N-Worts wegen nicht im Programmheft abgedruckt werden. Im Programmheft der Ruhrtriennale wird aus »Evil Nigger« das als politisch korrekt erachtete »Evil N****r«. Als Eastman-Werke vor zwei Jahren im Münchner Lenbachaus gespielt wurden, hieß es dort: »Die Werktitel müssen im Kontext der Aufführungen ausgeschrieben werden, um die Integrität seiner Arbeit und seiner Intentionen nicht zu gefährden.« Eastman hatte einst erklärt, »crazy nigger« sei keineswegs pejorativ, sondern ein Synonym für fundamentalen Wandel und Widerstand.

In der Turbinenhalle der Jahrhunderthalle Bochum führte das brillante Kammerorchester Wild Up aus Los Angeles nicht nur das meditativ-weitläufige Eastman-Stück »Buddha« auf – nicht wie in den USA schon geschehen mit einer Dauer von 14, sondern nur von vier Stunden. Dargeboten wurden am zweiten Aufführungstag unter dem kräfteraubenden Einsatz der Musikerinnen und Musiker auch die bereits genannten drei anderen Kompositionen, von denen »Crazy Nigger« die längste ist. Sie wartet mit einer atemberaubenden Kaskade komplexer Harmonien auf, die jeweils länger gehalten werden, sich scheinbar in ein Chaos auflösen, nur um sich auf eine neue Harmonie zutreiben zu lassen.

Die Ruhrtriennale endet am 15. September.
www.ruhrtriennale.de

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