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Mit dem Wolf leben

Mit seiner Rückkehr ist auch die Angst vor dem Wolf wieder da. Zu Unrecht, meint der Experte Kenny Kenner

  • Reimar Paul, Dübbekold
  • Lesedauer: 8 Min.
Kenny Kenner ist ehrenamtlicher Wolfsberater im Landkreis Lüchow-Dannenberg. Er setzt sich für das Zusammenleben von Mensch und Wolf ein.
Kenny Kenner ist ehrenamtlicher Wolfsberater im Landkreis Lüchow-Dannenberg. Er setzt sich für das Zusammenleben von Mensch und Wolf ein.

Eines hat Kenny Kenner schon mal klargestellt, bevor die Wolfswanderung losgeht. Wölfe werden wir auf unserer Tour wohl nicht zu Gesicht bekommen. Mit Rucksäcken und teils mit Ferngläsern ausgerüstet, haben sich 15 Leute im wendländischen Weiler Dübbekold versammelt – Gäste des von Wald und Wiesen umgebenen Bio-Hotels »Kenners Landlust« und Interessierte aus der Region. Kenner, der nicht nur Hotelier, sondern auch ehrenamtlicher Wolfsberater im Landkreis Lüchow-Dannenberg ist, führt die Gruppe durch die Göhrde, das größte zusammenhängende Mischwaldgebiet Norddeutschlands mit alten Bäumen, Naturdenkmälern und seltenen Tierarten.

Seit zehn Jahren leben in dem Gebiet auch wieder Wölfe in freier Wildbahn. Damals siedelte sich zunächst ein Wolfspaar an, im Sommer 2016 wurden erstmals auch Welpen nachgewiesen und somit ein Rudel bestätigt. Insgesamt sind im dünn besiedelten, waldreichen Landkreis nun vier Rudel ansässig. Bundesweit gibt es etwa 180 Wolfsrudel mit geschätzt 1300 bis 1500 Tieren.

Noch beim Warten auf die Nachzügler vor dem »Wolfsbau« genannten Wolf-Infozentrum des Hotels entspinnt sich eine kontroverse Diskussion über den Umgang mit den Tieren. »Warum darf man Wölfe nicht einfach abschießen wie anderes Wild auch?«, will eine Frau wissen. »Muss es da nicht wenigstens eine Obergrenze geben?«

»Das regelt sich von ganz alleine«, hält Kenner dagegen. »Wo ein Rudel ist, da kommt kein anderes hin.« In Deutschland werde sich die Zahl bei maximal 3000 bis 4000 Tieren einpendeln, »für mehr gibt es keinen Platz und keine Nahrung«. Es werde ökologisch also nie zu viele Wölfe geben, fügt Kenner an, »aber für manche gibt es vom Gefühl her zu viele«.

Im Zeitraum zwischen 2002 und 2020 gab es keinen einzigen Angriff von Wölfen auf Menschen in Deutschland.

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Reguliert wird der Wolfsbestand auch durch Unfälle, zum kleineren Teil auch durch illegale Abschüsse, durch Krankheiten oder Verletzungen nach Kämpfen mit Beutetieren wie Wildschweinen. Mehr als 1100 tote Wölfe wurden in Deutschland seit 2005 aufgefunden, 1000 davon landeten auf den Seziertischen des Leibniz-Instituts für Zoo- und Wildtierforschung in Berlin.

Kenner weiß, dass die Auseinandersetzung längst zu einem Kulturkampf mutiert ist. »Der Wolf steht so im Mittelpunkt, weil er die Menschen bewegt«, schon in Märchen und Mythen gerade im deutschsprachigen Raum wurden Wölfe von jeher verteufelt – und später ausgerottet. In anderen Ländern, Kenner nennt Italien und Spanien, seien die Menschen schon lange an Wölfe gewöhnt und die Koexistenz funktioniere viel entspannter: »Mein Interesse ist, dass das Zusammenleben auch hier klappt.«

Kurz nach dem Abmarsch der Wolfswanderer folgt die nächste Frage: »Was ist mit den Wölfen, die Schafe reißen? Muss man die nicht abschießen?« Wenn es mehrere Übergriffe gibt, die einem bestimmten Wolf zugeschrieben werden können, und kein anderes Mittel hilft, dann schon, sagt Kenner. Populistische Maßnahmen, wie das von der Umweltministerkonferenz kürzlich vereinbarte »Schnellabschussverfahren« seien aber nicht hilfreich.

Dieses Verfahren erlaubt in Regionen mit erhöhtem Rissaufkommen den Abschuss eines beliebigen Wolfes in einem Umkreis von 1000 Metern um und in einem Zeitraum von 21 Tagen nach dem letzten Riss. Für Kenner ist das Sippenhaft, das Verfahren sei auch nicht rechtssicher. Was stimmt: Allein in Niedersachsen kippten Gerichte zuletzt mehrere von den Behörden nach dem Schnellabschussverfahren erteilte »Entnahme-Genehmigungen«. Der Deutsche Jagdverband monierte daraufhin, dass das Schnellabschussverfahren ins Leere laufe. Der Verband fordert schon lange eine Herabstufung des Schutzstatus.

Dass Wölfe, wenn sie eine Schafherde überfallen, meist mehr Tiere tot beißen als zum Hungerstillen nötig ist, leugnet Kenner nicht. »Das ist, wie wenn sich die Menschen im Supermarkt die Wagen voller laden als für den unmittelbaren Hunger nötig, also Vorratshaltung«. Das einzig wirksame Gegenmittel sei ein Herdenschutz, der diesen Namen auch verdiene. Die meisten der in Niedersachsen von Wölfen gerissenen Weidetiere, betont Kenner, seien nicht oder nicht ausreichend geschützt gewesen. Wenn alle Halter zumindest den Grundschutz – einen 90 Zentimeter hohen Elektrozaun mit 4000 Volt Spannung – installierten, »hätten wir nur 20 bis 30 Prozent der Risse«. Kenner hat auch eine Vermutung, warum so viele Halter Herdenschutz ablehnen: »Da haben viele das Gefühl, ihnen wird was aufoktroyiert, dass das von oben kommt.«

Auch sogenannte Problemwölfe, weiß Kenner, ernährten sich zu rund 95 Prozent von pflanzenfressenden Wildtieren – von Hasen, Rehen, Hirschen, Wildschweinen. Sie bevorzugen dabei leichte Beute, jagen also alte und kranke Tiere und erledigen auf natürliche Weise das Geschäft der Jäger – sie sind für diese also eher Kumpel als Konkurrent.

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Kritisch sieht der Wolfsberater, dass in Niedersachsen ausgerechnet die Landesjägerschaft für das Wolfsmonitoring, also das Zählen und Dokumentieren der Tiere zuständig ist. Denn gleichzeitig hat sich der Verband unter Vorsitz des CDU-Politikers Helmut Dammann-Tamke ganz offiziell auf die Seite der Befürworter von »wolfsfreien Zonen« und durch Abschüsse definierten »Obergrenzen« geschlagen. »Da hat man«, sagt Kenner, »den Bock zum Gärtner gemacht«.

Unvermittelt stoppt Kenner. Er hebt die Hand, beugt sich zum Boden. »Hier haben wir eine Wolfsspur«, sagt er. Der Abdruck im Sand sieht aus wie der eines größeren Hundes, doch Kenner ist sich seiner Sache zu 100 Prozent sicher. Das Trittsiegel eines Wolfes ist länglich-oval, länger als breit, die kräftigen Krallenabdrücke sind gerade ausgerichtet. Im Vergleich dazu ist der Abdruck eines Hundes rundlich, und die Krallen weisen in verschiedene Richtungen.

»Das Göhrde-Rudel ist ein besonderes, ein besonders verrücktes Rudel«, sagt Kenner, als wir nach anderthalb Stunden auf einer Wegkreuzung den nächsten Halt einlegen. »Und es ist besonders gut dokumentiert.« Kenner selbst hat dazu viel beigetragen: An rund 40 Stellen im Wald hängen seine Wildtierkameras, etliche Nächte hat er sich auf Hochsitzen um die Ohren geschlagen, um in der Morgendämmerung einen oder mehrere Wölfe vor die Kamera zu bekommen. Neben Totfunden und genetischen Nachweisen wie Blut oder Losung zählen bestätigte Fotos und Filmaufnahmen zu den sogenannten C1-Nachweisen, den sicheren Beweisen für Wolfsvorkommen.

Vier Generationen umfasst das Göhrde-Rudel, es ist sozusagen eine Großfamilie, eine absolute Seltenheit: Das Elternpaar, ein jüngeres Paar – die Fähe ist eine frühere Tochter der alten Wölfin – zwei Jährlinge, also im vergangenen Jahr geborene Tiere, sowie eine nicht ganz genau bekannte Zahl von Welpen. Im Göhrde-Rudel, erzählt Kenner, habe die alte Fähe erlaubt, »dass eine Tochter bleibt und selbst Kinder bekommt«. Die meisten Wölfe hingegen würden mit einem oder anderthalb Jahren von den Eltern verstoßen, sie gingen auf Wanderschaft und versuchten, eigene Rudel zu gründen, erläutert Kenner. Dabei legen sie oft gewaltige Strecken zurück: Anfang dieses Jahres wurde ein in Niedersachsen geborener Wolf in den spanischen Pyrenäen nachgewiesen.

Klappt die Partnersuche, schaut die Wölfin – oft schon vor der Paarung – nach geeigneten Höhlen als Geburtsort und Schutzraum für die Welpen. Oder gräbt selbst eine Wurfhöhle, in die sie sich kurz vor der Geburt zurückzieht. Hier bringt sie Anfang Mai ihre Welpen zur Welt. In den ersten zwei Wochen sind die Kleinen mit Trinken und Schlafen beschäftigt, dann wagen sie sich zum ersten Mal aus der Höhle und lernen das Rudel kennen.

Knapp zehn Wochen nach der Geburt ziehen die Welpen auf einen »Rendezvous-Platz« um, der neben Rückzugsmöglichkeiten auch Freiraum für die ersten Jagdversuche bietet. Häufig sind es kleine, von Buschwerk umgebene Lichtungen, abseits der Pfade und Wege. Mehrere solche Rendezvouz-Plätze, auf denen die Eltern ihre Kinder auf das Leben und Überleben vorbereiten, hat Kenner auf seinen Göhrde-Wanderungen schon entdeckt.

Auch das Heulen lernen die jungen Tiere hier – und den »Heuldialekt« der eigenen Familie, der sich je nach Region und Gattung unterscheidet. Wölfe heulen einerseits, um ihr Revier zu markieren. Andererseits aus Trauer, wenn der Partner stirbt. Der Mythos, dass Wölfe den Mond anheulen, stimmt nicht. Ebenso wenig wie das oft grell überzeichnete Bild von der Menschen fressenden Bestie. Im Zeitraum zwischen 2002 und 2020 gab es keinen einzigen Angriff von Wölfen auf Menschen in Deutschland. Das besagt eine Studie des Norwegian Institute for Nature Research. Auch danach gibt es keine bestätigten Attacken. Für die Zeit vor 2002 gibt es keine offiziellen Zahlen.

»Menschen gehören eindeutig nicht ins Beuteschema der Wölfe«, sagt Kenner auf die Frage, wie man sich verhalten soll, wenn man im Wald oder auf einem Feld doch einmal einem Wolf begegnet: »Ruhig bleiben und Abstand halten, aber nicht weg- oder dem Wolf entgegenlaufen und ihn keinesfalls bewerfen.« Junge Wölfe seien zwar scheu, aber auch neugierig, das Werfen mit Gegenständen könne von ihnen als Aufforderung zum Spielen verstanden werden.

»Und vor allem: Niemals Wölfe füttern!« Kenner erinnert hier an den als »Kurti« bekannt gewordene Wolf mit der Kennung MT6 aus dem auf einem Truppenübungsplatz in der Lüneburger Heide lebenden Rudel. Er hatte sich auffällig verhalten, sich ab 2015 mehrmals Menschen bis auf wenige Meter genähert und soll einmal sogar einer Spaziergängerin mit Kinderwagen und Hund hinterhergelaufen sein.

Als erster Wolf seit der Wiedereinwanderung der Tiere um die Jahrtausendwende wurde »Kurti« amtlicherseits zum Abschuss freigegeben und am 27. April 2016 getötet. Spätere Untersuchungen erhärteten den Verdacht, dass MT6 – möglicherweise von Soldaten – angefüttert worden war und deshalb seine Scheu verloren hatte. Der Tierkörper wurde präpariert und zunächst im Niedersächsischen Landesmuseum Hannover ausgestellt, später war er auch in anderen Städten zu besichtigen.

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