Raumnot in britischen Gefängnissen

Labour-Regierung startet Programm zur Gefangenen-Entlassung

  • Peter Stäuber, London
  • Lesedauer: 4 Min.
Die vor der Entlassung stehenden Gefangenen haben es einfacher: Das Kunstwerk des Straßenkünstlers Banksy zeigt einen Fluchtversuch über die Fassade.
Die vor der Entlassung stehenden Gefangenen haben es einfacher: Das Kunstwerk des Straßenkünstlers Banksy zeigt einen Fluchtversuch über die Fassade.

Wenige Tage nach Keir Starmers Amtsantritt im Juli sagte der Premierminister, er sei »schockiert« über den Zustand der Gefängnisse – es sei noch schlimmer, als er gedacht habe. Damit die Situation nicht eskaliere, bleibe nur ein Ausweg: Ein Teil der Häftlinge müsse vorzeitig entlassen werden. In den folgenden Wochen bereitete das Justizministerium die Details des Notfallplans vor, er nennt sich »Operation Early Dawn« – frühe Morgendämmerung. Diese Woche ist es so weit: Die ersten Häftlinge werden am Dienstag auf freien Fuß gesetzt. Es sind die ersten von rund 5500 Straftätern, die im Lauf der kommenden Wochen vorzeitig aus der Haft entlassen werden.

Das Programm bezieht sich nur auf Häftlinge mit sogenannten Standardstrafen, bei denen sowieso die Möglichkeit der Entlassung nach Verbüßen der halben Strafe besteht. Sie sollen jetzt bereits freikommen, wenn sie 40 Prozent der Strafe abgesessen haben. Sexualstraftäter, Terroristen und Täter, die wegen schwerer Körperverletzung und häuslicher Gewalt verurteilt wurden, sind nicht Teil des Programms. Allerdings hat das Justizministerium eingeräumt, dass unter den frühzeitig Entlassenen manche Personen sind, die sich schwerer Verbrechen schuldig gemacht haben.

Rekordwert bei den Gefangenen

Die überlasteten Gefängnisse in England und Wales zählen zu den akutesten Problemen, die die neue Labour-Regierung in den Griff bekommen muss. Seit vielen Jahren häufen sich die Warnungen, dass die Situation schnell aus dem Ruder läuft. Zum einen sind die Gefängnisse hoffnungslos überbelegt. Am vergangenen Freitag meldete das britische Justizministerium, dass die Zahl der Häftlinge in England und Wales mit 88 521 einen neuen Höchstwert erreicht hat. Gefängnisdirektoren haben im Sommer gewarnt, dass bald keine Zellen mehr verfügbar seien.

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Der Platzmangel zieht auch andere Konsequenzen nach sich: »Wenn es immer enger wird und es weniger Wärter für eine bestimmte Anzahl von Gefangenen gibt, dann wird es häufiger zu Gewalt kommen«, schreibt der Thinktank Institute for Government. Tatsächlich haben Auseinandersetzungen zwischen Gefangenen in den vergangenen Jahren zugenommen, darunter auch Fälle von schwerer Körperverletzung. Zudem sind Selbstverletzung und Suizide häufiger geworden.

Einen plastischen Einblick in die Gefängniskrise bot vergangene Woche ein Bericht der BBC. Ein Team erhielt Zugang zur Strafanstalt HMP Pentonville im Norden Londons. Das 1852 errichtete Gefängnis war ursprünglich für 520 Insassen gebaut – heute liegt die Kapazität bei 1205, mit zwei Sträflingen pro Zelle. Die BBC beschreibt eine Zelle, die gerade einmal 2 mal 1,80 Meter groß ist und »stechend nach Urin, Fäkalien und verfaultem Essen« stinkt. Aus der kleinen Toilette in der Ecke laufe das Wasser, hin und wieder sehe man Mäuse oder Kakerlaken. Immer wieder gehe im Gefängnis der Alarm los – wegen Raufereien zwischen Gefangenen oder weil sich ein Insasse selbst Verletzungen zugefügt habe. Eine Gefängniswärterin berichtet, dass sie kürzlich bei einer Schlägerei dazwischen gegangen sei und sich dabei beide Handgelenke gebrochen habe. In ihren fünf Jahren als Wärterin sei es noch nie so schlimm gewesen wie jetzt, erzählt sie.

Kriminalität geht zurück, Strafmaße gehen hoch

Allerdings ist der Notstand in den Gefängnissen nicht einer Zunahme der Kriminalität geschuldet: In den vergangenen 30 Jahren ist die Kriminalitätsrate in Großbritannien deutlich zurückgegangen – dennoch hat sich die Gefängnispopulation in dieser Zeit verdoppelt. Ausschlaggebend ist eine härtere Justiz: Heute sind Gefängnisstrafen im Durchschnitt doppelt so lang wie vor 50 Jahren. Nirgendwo in Westeuropa werden im Verhältnis zur Bevölkerung so viele Leute ins Gefängnis gesteckt wie in England. Dazu kommt fehlende Kapazität im restlichen Justizsystem: Viele Insassen sind für längere Zeit in Untersuchungshaft, weil die überforderten Gerichte so lange brauchen, um sie zu verurteilen.

Die frühzeitige Entlassung könne denn auch nur eine vorübergehende Lösung sein, sagen Fachleute und Vertreter des Justizsystems. Vergangene Woche publizierten vier ehemalige Lord Chief Justices – die höchsten Richter im Land – ein Arbeitspapier, in dem sie kürzere Strafen fordern. »Der Hauptgrund für die Krise der überbelegten Gefängnisse im Jahr 2024 sind Jahrzehnte der Strafinflation«, sagte Nick Phillips, Lord Chief Justice von 2005 bis 2008, gegenüber der »Financial Times«. Auch die Strafreformorganisation Howard League for Penal Reform, die sich für eine breitere Reform der Strafjustiz einsetzt, steht hinter diesem Ansatz: Es gebe keinerlei Beweise, dass längere Strafen zu einer Reduktion der Kriminalität beitragen.

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