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Jens-Balzer-Buch: Doppeltes Missverständnis

Der 7. Oktober machte klar: Die deutsche Linke hat ein eklatantes Wahrnehmungsproblem

  • Frédéric Valin
  • Lesedauer: 4 Min.
Postkoloniale Theorie hatte mal ihre guten Momente, in Gaza hat sie versagt, sagt Balzer.
Postkoloniale Theorie hatte mal ihre guten Momente, in Gaza hat sie versagt, sagt Balzer.

Jens Balzer hat recht. Der 7. Oktober 2023 war eine Zäsur. Die Herzlosigkeit all jener, die diesen bestialischen Angriff der Hamas als Teil eines Befreiungskampfes verstanden, trat überdeutlich vor Augen. Ein mehr oder weniger latenter Antisemitismus, auch und gerade in Teilen der globalen Linken, manifestierte sich aufs Grausigste. Es ist auch wahr, dass der 7. Oktober für die »woke« Linke einen historischen Einschnitt darstellt und zumindest für einen Teil den moralischen Konkurs bedeutet – jenen Teil nämlich, der mit der Hamas sympathisiert oder sich sogar mit ihr identifiziert. Denn auch der andauernde Krieg in Gaza ist von der Hamas kalkuliert.

Kalkuliert ist eben aber auch, dass die vielen, vielen toten Palästinenser*innen, die die Reaktion Israels hervorbrachte, in jenem Deutschland, aus dem heraus Balzer schreibt, weniger wahrgenommen werden als die Opfer des Supernova-Festivals. Die Hamas versucht hier einen Bruch der Menschlichkeit offenbar werden zu lassen, den im Westen wahrzunehmen schon als Antisemitismus gelesen werden kann. Dieses doppelte Missverständnis – nicht zu verstehen, was der 7. Oktober bedeutet, und nicht zu verstehen, was all die toten Kinder auf den Straßen nach Ägypten in der Folge sind – zeigt, dass die gesellschaftliche Linke hier kein Analyseproblem hat, sondern ein Wahrnehmungsproblem, das von jedem Universalismus unterlaufen wird.

Jens Balzer irrt aber auch, gerade wo er träumt. In den Mittelpunkt seiner Überlegungen stellt er den Überfall auf das Supernova-Festival. Das ist mit Sicherheit keine Setzung, die unwidersprochen bleiben wird – die von Balzer kritisierten woken Linken würden mit Sicherheit darauf beharren, dass jener Angriff der Hamas sich auch gegen illegal errichtete Siedlungen richtete –, aber sie hat den Vorteil, besonders scharf ins Visier zu nehmen, was Balzer zu verteidigen sucht: die Vielfalt, die Freiheit, die Begegnung von Menschen unterschiedlicher Herkunft, Positionen und Identitäten, die dieses Festival – und Kunst überhaupt – ermöglicht. Kunst, so könnte man mit Balzer sagen, soll kein Schlachtfeld sein, sondern ein Foyer.

Die Idee ist schön, nicht weil sie utopisch ist, sondern weil sie so nahbar wirkt: Es muss der Linken darum gehen, Menschen zu ermöglichen, zu sich selbst zu finden und gleichzeitig einander zu begegnen. Idealerweise etablieren sich Räume des vorherrschaftsfreien Diskurses, in denen das verständigere Argument obsiegt; Aufgabe der Linken wäre es, diese Räume zu schaffen, statt zusammen mit einer faschistischen Terrorgruppe von der potenziellen Auslöschung nicht nur eines Staates, sondern vor allem von dessen Bevölkerung zu träumen.

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»After Woke« hätte länger sein müssen, um zu mehr einzuladen, als zu träumen; es hätte auch ein Kapitel gebraucht, das kritisch klärt, auf welchen ideologischen Grundlagen dieser Traum steht. Balzer weist auf Kant, Habermas und – als normative Grundlage – auf die Erklärung der Menschenrechte infolge der Französischen Revolution als Basis für jenes kollektive linke Selbstverständnis hin, das sich zu verteidigen lohnt.

Gerade jene Erklärung der Menschenrechte hat aber viel dazu beigetragen, dass heute die Einwände einer europäischen emanzipativen Linken nicht mehr gehört werden, weil sie nicht mehr als glaubwürdig gilt. Denn diese Erklärung hat weder verhindert, dass die erste sich selbst befreiende Kolonie – Haiti – auf Jahrhunderte ins Elend gestürzt wurde, noch hat sie den Code Noir aufgehoben, jene Gesetzgebung, die Schwarze Menschen zwar höher als Tiere stellte, aber sie juristisch von weißen Menschen schied.

Es gibt ein revanchistisches Moment in der Unterstützung postkolonialer Denker*innen für faschistische Gruppen wie die Hamas. Dieses revanchistische Moment richtet sich konkret gegen Israel und gegen Jüd*innen; aber vielleicht sind damit auch jene woken Linken gemeint, die den 7. Oktober brauchten, um zu merken, dass mit dieser Welt fundamental etwas nicht stimmt; obwohl auch sie das Foto des ertrunkenen Alan Kurdi gesehen haben müssen.

Der Revanchismus gegen Israel und die Jüd*innen ist nichts anderes als aggressiver Antisemitismus und unbedingt zu bekämpfen; der Revanchismus gegen eine deutsche Linke, die sich in all den Jahren immer wieder für viele marginalisierte Gruppen als äußerst unzuverlässiger Partner erwiesen hat, stellt aber Fragen, die mit der Feier der Vielfalt nicht zu beantworten sind.

Das Buch von Jens Balzer ist dennoch ein Gewinn, weil es einen Korridor des gegenseitigen Verständnisses öffnet. Auch wenn ich finde, dass er in den historischen Teilen seiner Analyse irrt, teilen wir doch die gleiche Ansicht: Links sein heißt das Leben feiern in allen Facetten. Jedes Leben. Das ist ein Grundsatz, hinter den Linkssein nie zurückfallen darf, darin sind Balzer und ich uns immerhin einig.

Jens Balzer: »After Woke«, Matthes&Seitz, geb., 105 S. 12€.

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