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Berliner Tegel-Bündnis: Selbst bestimmen

Zurzeit wird viel über Geflüchtete diskutiert. Sie selbst kommen nur selten zu Wort. Beim Tegel-Bündnis organisieren sie sich jetzt selbst.

  • Ulrich Weber
  • Lesedauer: 4 Min.
Das sogenannte Ankunftszentrum in Tegel als Unterkunft für Geflüchtete soll noch weiter ausgebaut werden.
Das sogenannte Ankunftszentrum in Tegel als Unterkunft für Geflüchtete soll noch weiter ausgebaut werden.

In den derzeitigen Debatten über einen neuen Asylkompromiss gibt es eine Stimme, die im Diskurs unterzugehen droht: die der Geflüchteten selbst. Nach dem islamistischen Anschlag von Solingen, bei dem im August drei Menschen getötet und acht weitere verletzt wurden, pfeifen es die Spatzen von den Dächern: Vieles wird sich für Geflüchtete verändern.

Die Forderung von Friedrich Merz (CDU), für drei Monate die Rückweisung von Geflüchteten an Deutschlands Außengrenzen testen zu wollen, zeigt als ein Beispiel von vielen, wie das Sicherheitsempfinden von Geflüchteten billigend unter die Räder einer abstrakten Sicherheitsdebatte gerät. Die AfD legt noch eine Schippe drauf und fordert in Gestalt ihres Brandenburger Spitzenkandidaten Hans-Christoph Berndt gar den Ausschluss von Geflüchteten bei öffentlichen Veranstaltungen sowie eine gezielte »Zermürbung« bis hin zur freiwilligen Ausreise.

Weniger scheint es bei all dem um die tatsächliche Sinnhaftigkeit von Maßnahmen zu gehen, solange sie von der Öffentlichkeit als »weitreichend« empfunden werden. Da es sich bei den Betroffenen um das schwächste Kettenglied der Gesellschaft handelt und generell wenig über die Lebensbedingungen in den Massenunterkünften bekannt ist, hält sich die Empörung in Grenzen.

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Wie dennoch die Stimme von Geflüchteten hörbar gemacht werden kann, zeigt das Berliner Tegel-Bündnis. Der Gründung vorausgegangen waren islamistisch motivierte Angriffe auf kurdische Geflüchtete Ende vergangenen Jahres im Flüchtlingslager auf dem Gelände des ehemaligen Flughafens Tegel. Laut den betroffenen Kurd*innen wurden sechs von ihnen durch andere Bewohner*innen und Sicherheitspersonal verletzt. Eine schwangere Frau soll sogar in Folge der erfahrenen Gewalt ihr Kind verloren haben. Da die Unterkunftsleitung die Betroffenen lediglich in einem anderen Zelt isolierte und mit dem Angebot abfertigte, Tegel jederzeit freiwillig verlassen zu können, folgten die ersten öffentlichkeitswirksamen Proteste auf den Fuß.

Im Tegel-Bündnis nimmt beispielsweise eine Gruppe kurdischer Geflüchteter aus der Türkei, die sich den Namen »Alan Kurdi« gegeben hat, eine wichtige Rolle ein. Alan Kurdi war ein zweijähriger kurdischer Jugendlicher, der 2016 tot am Mittelmeerstrand angespült wurde und der Weltöffentlichkeit die Realität von Flucht vor Augen führte. Die gesammelten Erfahrungen in den kurdischen Siedlungsgebieten der Türkei und im selbstverwalteten Camp Lavrio nahe Athen, das für viele kurdische Geflüchtete die erste Anlaufstelle in Europa darstellte, begann die Gruppe auch in Tegel anzuwenden. Auf Sitzungen in den Schlafhallen wurden bestehende Probleme wie Drogenverkauf, Prostitution und Gewalt gegen Frauen in der Unterkunft thematisiert und es wurde versucht, diese im Rahmen der bestehenden Möglichkeiten zu lösen. Binnen weniger Monate bildete sich so ein Netzwerk von Geflüchteten verschiedenster Herkunft, das sich gegen Drangsalierung durch andere Bewohner*innen oder Drohungen durch das Tegeler Sicherheitspersonal zur Wehr setzen konnte.

Autor

Ulrich Weber engagiert sich im »Tegel-Bündnis«, das Versammlungen von Geflüchteten in der Massenunterkunft am ehemaligen Flughafen Tegel organisiert.

Ziel des Tegel-Bündnisses ist es nicht, lediglich Forderungen an den Staat zu erheben, sondern selbst zu einer Lösung für bestehende Probleme zu werden. Da die Geflüchtetenunterkünfte oftmals am Stadtrand angesiedelt sind und damit automatisch eine Trennung von der restlichen Gesellschaft besteht, werden seit Dezember 2023 mit den »Tegel Assemblies« monatliche Treffen außerhalb der Geflüchtetenunterkünfte organisiert. Nach dem gemeinsamen Essen, das standardmäßig jede Assembly eröffnet, wird sich über die Lage ausgetauscht und Planungen werden in themenspezifischen Arbeitsgruppen gemacht. Für die kommende Zeit hat das Tegel-Bündnis große Pläne. Gestaltungsräume für Geflüchtete sollen neu geschaffen und die Vernetzung untereinander soll noch weiter ausgebaut werden. Am besten soll das nicht nur in Deutschland geschehen, sondern europaweit. Was es dafür nach Ansicht der kurdischen Geflüchteten braucht, ist nicht etwa Mitleid von der deutschen Gesellschaft, sondern Menschen, die willens sind, mitanzupacken.

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