Das Design bestimmt das Bewusstsein

Literatur ist zum Lesen, Nachdenken, Verzweifeln, Freuen, Weinen da. Warum, zum Teufel, muss sie dabei auch noch gut aussehen?

Hier zu sehen ist etwas sehr Seltenes: ein ganz normales Buch
Hier zu sehen ist etwas sehr Seltenes: ein ganz normales Buch

Ich bin mir nicht sicher, ob, um einer besseren Zukunft willen, der Buchmarkt nicht radikal modernisiert werden sollte. Erwirbt man derzeit arglos ein Buch, ist man oft genötigt, in der Folge allerlei Beschwerlichkeiten auf sich zu nehmen: Man muss es aufschlagen, es lesen, obendrein möglicherweise das Gelesene im Hirn abspeichern und auswerten, es unter Umständen vielleicht sogar mit anderen besprechen. Zu anstrengend! Zu viel Energieverbrauch! Zu umständlich! Zu zeitraubend!

Nicht allein überflüssiges Gedankengut könnte unverzüglich eingespart werden, ließe man künftig bei Büchern den Inhalt einfach weg. Auch bei Personal (Autorin, Lektor, Korrektorin, Drucker usw.) und Material (Druckmaschinen, Druckerschwärze) könnten in großem Stil verschlankende Maßnahmen getroffen werden. Die Verlagsszene macht bereits riesige Fortschritte in dieser Richtung und diversifiziert längst ihr Sortiment, passt es an heutige Bedürfnisse an und stellt es auf zeitgemäße Produkte um. Denn Bücher, die traditionellen Text enthalten, werden heute kaum noch benötigt. Bücher dagegen, die als schickes Selbstdarstellungstool, modisches Accessoire, Signal zur Kontaktanbahnung oder Handschmeichler fungieren, sind das Handelsgut der Zukunft.

Bücher dagegen, die als schickes Selbstdarstellungstool, modisches Accessoire, Signal zur Kontaktanbahnung oder Handschmeichler fungieren, sind das Handelsgut der Zukunft.

Den Beweis für die Marktreife und den kommerziellen Erfolg dieses neuen Geschäftsmodells liefert die folgende wahre Geschichte, die ein Freund, dessen Bücher in einem angesehenen deutschen Verlagshaus erscheinen, mir neulich erzählte und die ihm wiederum von einem in einem anderen renommierten Verlag publizierenden Freund anvertraut wurde: Vor drei Jahren, aus Anlass des 150. Geburtstages von Marcel Proust, dessen Monumentalroman »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« bereits seit Jahrzehnten als eine Art Monument der literarischen Moderne gilt, gab der Verlag Suhrkamp, der wiederum als eine Art Monument unter den deutschen Literaturverlagen gilt, mehrere Werke des französischen Schriftstellers sowie ins Gesamtwerk einführende Literatur in liebevoll gestalteten neuen Ausgaben heraus. Unter den neu erschienenen Titeln befand sich etwa Prousts oben genanntes, in drei pralle Prachtbände gebundenes Hauptwerk, mit einem »Schmuckschuber« versehen (Suhrkamp: »ein wahrer Hingucker«, »darf in keinem gut sortierten Bücherregal fehlen«). Des Weiteren gab es ein Buch mit bis dahin unveröffentlichten frühen Prosaskizzen und Erzählungen (»Die Zeit«: »eine Sensation«) sowie eine zweibändige, wieder aufgelegte Sammlung von ausgewählten Briefen des Dichters, ebenfalls im Schuber (»NZZ«: »eine grandiose Fundgrube«). Auch die Neuauflage einer ziegelsteindicken Biografie gehörte zum Angebot.

Doch das meistverkaufte Buch von allen Proust-Titeln, die zum Jubiläumsjahr erschienen sind, ist ein Notizbuch. Ein Notizbuch im Taschenbuchformat, dessen Umschlag und Buchrücken nach Art des klassischen Suhrkamp-Taschenbuchs designt sind: Auf der Vorderseite ist der Schriftzug »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« zu lesen, glänzend und purpurfarben auf schwarzem Hintergrund (Design bestimmt das Bewusstsein).

Das Ding scheint seither eine Art Dauerbestseller des Hauses zu sein. Zumindest stammt der Verlagswebseite zufolge die siebte und jüngste Auflage des Notizbuchs vom Januar dieses Jahres. Damit hier keine Missverständnisse aufkommen: Das im Zusammenhang mit dem Proust-Jahr meistverkaufte, erfolgreichste Produkt des Verlags ist ein Buch mit komplett leeren Seiten. Eine Tatsache, die Marktbeobachter und Trendscouts der Buchbranche genau registrieren sollten (und auf die ich deshalb an dieser Stelle explizit hinweise).

Die gute Kolumne

Thomas Blum ist grundsätzlich nicht einverstanden mit der herrschenden sogenannten Realität. Vorerst wird er sie nicht ändern können, aber er kann sie zurechtweisen, sie ermahnen oder ihr, wenn es nötig wird, auch mal eins überziehen. Damit das Schlechte den Rückzug antritt. Wir sind mit seinem Kampf gegen die Realität solidarisch. Daher erscheint fortan montags an dieser Stelle »Die gute Kolumne«. Nur die beste Qualität für die besten Leser*innen! Die gesammelten Texte sind zu finden unter: dasnd.de/diegute

Das Unternehmen Suhrkamp wirbt für das vollständig von Text befreite »Taschenbuch«, in dem es nichts zu lesen gibt, mit dem folgenden Proust-Zitat: »In Wirklichkeit ist jeder Leser, wenn er liest, eigentlich der Leser seiner selbst.« Ein gut gewähltes Zitat! Es schmeichelt dem Ego des potenziellen Käufers, gibt dem ebenso narzisstischen wie halbalphabetisierten Jungkunden das schöne Gefühl, selbst eine Art wiedergeborener Proust zu sein, der mit jedem Aphorismus, den er in seinem Notizbuch hinterlässt (»Bier einkaufen – nicht vergessen!!«), organisch pulsierende Literatur erschafft, sozusagen ohne Zeitverlust an unserer rasenden Gegenwart entlangdichtet.

Weiter heißt es auf der Suhrkamp-Webseite: »Das elegante und handliche Notizbuch lädt auf 160 Blankoseiten ein zum Schreiben und Notieren, zum Sinnieren und Skizzieren.« Man kann also darin nicht nur Schreib-Schreib machen, sondern auch etwas hineinmalen, Platz genug ist ja. Der unbedruckte Papierblock im Taschenbuchformat kostet sechs Euro.

Sicher ist jedenfalls: Es handelt sich um einen, wie man unter Geschäftsleuten sagt, »unschlagbaren Preis«. Und das Beste ist: Von den sechs Euro muss kein einziger Cent an irgendeinen Autor weitergereicht werden.

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