Kann sich Berlin von der Autosucht befreien?

Ein Neuköllner Kiez hat den Verkehr reduziert. Ein Boulevardblatt schreibt daraufhin von »Lebensgefahr Kiezblock«

Autos haben in Berlin immer noch oberste Priorität.
Autos haben in Berlin immer noch oberste Priorität.

Anfang des Monats warnte die größte Berliner Boulevardzeitung B.Z. auf ihrer Titelseite: »LEBENSGEFAHR«. Diese tödliche Gefahr war direkt in meiner Nachbarschaft! Doch was war die Warnung in Großbuchstaben wert?

Wenn man im südlichen Teil von Nord-Neukölln unterwegs ist, liegt die Gefahr auf der Hand: Autos. Bis zu 4.000 Autos rasen täglich über den einst so beschaulichen Richardplatz, vorbei an Kindertagesstätten und Grundschulen. Autos sind nicht nur gefährlich, wenn sie jemanden anfahren. Ihre Reifen produzieren noch mehr tödliche Schadstoffe als ihre Abgase. Ihr Lärm in Wohngebieten verkürzt zudem die Lebenserwartung erheblich. Ihre Kohlenstoffemissionen verursachen Überschwemmungen, Dürreperioden und andere tödliche Katastrophen.

Doch die B.Z. scheint nicht zu wollen, dass Sie sich darüber Gedanken machen. Nein, ihre Sorge gilt einer Handvoll Poller, die das Bezirksamt Neukölln am 21. und 27. August aufgestellt hat. Dieser »Kiezblock« soll verhindern, dass Autos an unseren Häusern in Rixdorf vorbeifahren. Die Boulevardzeitung schreibt, dass diese Poller im Notfall Feuerwehrautos blockieren würden.

Column »Red Flag«

»Red Flag« ist eine Kolumne über Berliner Politik von Nathaniel Flakin. Sie erschien von 2020 bis 2023 im Magazin »Exberliner« und fand ein neues Zuhause bei der Zeitung »nd« – als deren erster Inhalt, der auch auf Englisch zu finden ist. Nathaniel ist auch Autor des antikapitalistischen Reiseführers Revolutionary Berlin.

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Es mag überflüssig erscheinen, darauf hinzuweisen, dass eine Publikation aus dem Hause Axel Springer die Wahrheit verdreht. Aber kurz gefasst: Kiezblocks sind sicher. Die Feuerwehr hat Schlüssel, um die Poller in wenigen Sekunden zu entfernen. Sie wurde bei der Planung des Kiezblocks hinzugezogen. Was Einsatzfahrzeuge in Berlin hingegen wirklich blockiert, sind widerrechtlich geparkte Autos.

»Bürgerbeteiligung gab es nicht«, heißt es in dem B.Z.-Artikel. Dabei wurde über den Kiezblock schon vor mehr als drei Jahren abgestimmt! Es hat zahlreiche öffentliche Versammlungen und Demonstrationen gegeben. In einer englischen Kolumne von vor fast zwei Jahren habe ich keinen Hehl aus meiner Ungeduld mit der Zögerlichkeit der Bürokratie gemacht.

Lesen Sie auch: Kiezblocks in Gefahr – Verwaltungsgericht Berlin stoppt Verkehrsberuhigung in Pankow.

Es ist nur ein Beispiel für rechte Moralpanik, die Berlin regelmäßig durchlebt. Eine Springer-Publikation startet etwas, das wie eine Desinformationskampagne wirkt – und wird dann von SPD-Politiker*innen und vermeintlich seriösen Publikationen als angebliche »Stimme Berlins« aufgegriffen.

Die Wahrheit ist, dass der Kiezblock immens populär ist. Eine Sprecherin des Bezirksamtes Neukölln sagte, »der überwiegende Teil der Anwohnenden begrüßt« die Maßnahme. Ich kann das bestätigen: Ich habe meine Nachbarschaft befragt und 91 Prozent haben den Kiezblock als »gut« bewertet.

Wer hat sich nun geärgert? Autofahrer*innen, die es gewohnt waren, mit hoher Geschwindigkeit an unserem Haus vorbeizufahren. Aber Autofahrer*innen sind oft wütend – Studien zeigen, dass Autofahren viel stressiger ist als Zugfahren.

Ich frage mich: Sind Autos vielleicht wie eine Sucht? Ich habe früher geraucht, und wie die meisten Menschen, die sich die Sucht abgewöhnt haben, wünschte ich, ich hätte nie damit angefangen. Ich musste ein paar Monate von den Zigaretten wegkommen, um zu erkennen, dass sie schädlich und irgendwie eklig sind.

Derzeit glauben viele Berliner*innen, dass sie niemals ohne Autos leben könnten. Aber was würde passieren, wenn sie eine Stadt erleben, die für Menschen gemacht ist? Ich stelle mir vor, dass wir bald mit Scham und Abscheu auf eine Zeit zurückblicken, in der Autos unsere Straßen beherrschten – so wie wir uns heute kopfschüttelnd wundern, dass Menschen in Krankenhäusern und Kindertagesstätten rauchen durften.

Ljubljana hat seine Innenstadt bereits 2008 autofrei gemacht. Trotz anfänglicher Proteste werden die Maßnahmen inzwischen von 95 Prozent der Einwohner*innen unterstützt. Wenn die Menschen erst einmal eine autofreie Stadt erlebt haben, in der Kinder auf der Straße spielen und Nachbar*innen sich treffen können, ist es schwer, wieder zurückzugehen.

Die meisten Menschen in Berlin können sich mit Fahrrad, Bahn und Bus fortbewegen. In all diese Systeme muss massiv investiert werden – wir brauchen Milliarden für den öffentlichen Nahverkehr statt für neue Autobahnen. Menschen mit eingeschränkter Mobilität haben es verdient, auf Kosten der Stadt befördert zu werden. Aber niemand braucht eine zwei Tonnen schwere Blechkiste, die 300km/h schnell ist, um sich fortzubewegen. Wer wirklich ein Auto braucht, kommt in der Stadt auch mit einem Golfwagen mit einer Höchstgeschwindigkeit von 20 km/h aus. So bliebe Platz für die wichtigsten Fahrzeuge – Krankenwagen, Feuerwehrwagen und Lieferfahrzeuge, die die letzte Meile zurücklegen müssen, um ihre Ziele problemlos zu erreichen.

Wäre man bei der B.Z. tatsächlich daran interessiert, das Sterberisiko in Berlin zu senken, würde man über die Abschaffung des Autos schreiben.

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