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Dokus: »Jedes Kind hat das Recht am eigenen Bild«

Von den blinden Flecken der Dokumentarfilme über sogenannte Brennpunktschulen

  • Marit Hofmann
  • Lesedauer: 7 Min.
Herr Bachmann mit der obligatorischen Mütze und seine Klasse
Herr Bachmann mit der obligatorischen Mütze und seine Klasse

War deine Schulzeit ein Quell der Freude oder des Leids, der Erkenntnis oder des Leistungsdrucks, des Spaßes oder der Beschämung? Der intime Ort des Klassenzimmers, vornehmlich an sogenannten Brennpunktschulen, in denen Kinder aus ärmeren Familien und/oder nichtdeutscher Herkunft häufig unter sich sind, ist ein beliebter Drehort nicht nur für reißerische TV-Dokus, sondern auch für hochgelobte Kino-Dokumentarfilme. Eine Schieflage entsteht dabei schon dadurch, dass das Publikum mehrheitlich privilegierter ist als die gezeigten Familien – vermutlich würde es auch nicht (oder nur unter bestimmten Bedingungen) erlauben, dass die eigenen Kinder gefilmt werden. Wie gehen Regisseur*innen mit ihrer Verantwortung um?

Ruth Beckermann, die den Film »Favoriten« an einer Grundschule im gleichnamigen ehemaligen Arbeiterbezirk Wiens gedreht hat, antwortet auf die Frage nach Mitsprachemöglichkeiten der Familien bei der Auswahl der Filmbilder (nd-Interview vom 19.9.): »Stellen Sie sich einmal die Frage, was die gleichen Menschen alles ins Internet stellen. Da stellen Sie keine Fragen als Journalistin. Sie fragen eine Filmemacherin, die drei Jahre lang gedreht hat, ob die Menschen wussten, was sie dreht oder dass sie dreht.«

Bereitwilliger gab die Regisseurin Maria Speth im »nd«-Interview Auskunft über die Entstehung des Films »Herr Bachmann und seine Klasse« (2021), der die 6b einer Gesamtschule im migrantisch geprägten Stadtallendorf begleitet: »Natürlich gab es auch mal die Bitte der Klasse und von Dieter Bachmann, einen Blick auf das Material werfen zu dürfen, aber ich sagte ihnen, sie müssten sich darauf verlassen, dass ich das schon in ihrem Sinne mache. Ich wollte Selbstvergessenheit und nicht Selbstbespiegelung erreichen.« Einige Schüler*innen, räumt sie ein, hätten Schwierigkeiten gehabt, »Aspekte ihrer Persönlichkeiten oder ihres Aussehens (...) sozusagen objektiviert auf der Leinwand zu sehen«.

Während es für minderjährige Darsteller*innen von Spielfilmen strenge Vorgaben gibt, fallen Dokus, die Kinder in ihrem Alltag zeigen, nicht unter den Kinderarbeitsschutz, was Martina Huxoll-von Ahn, stellvertretende Geschäftsführerin des Kinderschutzbunds (DKSB) »hochproblematisch« findet. Richtlinien für Dokumentarfilme mit Beteiligung von Kindern und Jugendlichen stehen in den Kindeswohlkonzepten der Filmwirtschaft noch aus.

»Wer fragt die Kinder? Da sind die Eltern oder Lehrer*innen, die dem Film zustimmen, nicht die richtigen. Eine Person von außen mit medienpädagogischem Sachverstand sollte dabei sein.«

Martina Huxoll-von Ahn  stellvertretende Geschäftsführerin des Kinderschutzbunds

Reicht also eine Einverständniserklärung der Eltern vor den Dreharbeiten? »Jedes Kind hat das Recht am eigenen Bild«, stellt Huxoll-von Ahn gegenüber »nd« klar. »Ich möchte gar nicht in Abrede stellen, dass es einfühlsame Journalist*innen oder Filmemacher*innen gibt, aber die Fragen sind: Zeige ich das Kind verpixelt, zeige ich es von hinten? Lassen sich anhand der Aufnahmen Rückschlüsse auf das Wohnumfeld ziehen?«

Nun soll es hier nicht um zweifelsfrei entwürdigende Darstellungen gehen wie in dem Dokumentarfilm »Elternschule« (2018), der die brutale Behandlung psychosomatisch erkrankter Kinder in einer Klinik zeigt, oder Formate wie »Super-Nanny« (RTL), gegen die der DKSB Prostest einlegte. Eine Verpixelung wäre bei Filmkunstwerken, die vom lebendigen Ausdruck der Kindergesichter und ihrer Persönlichkeiten leben, nicht praktikabel. Die hier behandelten Filme nähern sich den Kindern durchaus empathisch und reduzieren sie nicht auf ihre schulische Leistung.

Dennoch ist für Huxoll-von Ahn von zentraler Bedeutung: »Wer fragt die Kinder? Da sind die Eltern oder Lehrer*innen, die dem Film zustimmen, nicht die richtigen. Eine Person von außen mit medienpädagogischem Sachverstand sollte dabei sein. Kinder können durchaus Spaß an solchen Projekten haben, aber man muss mit ihnen erarbeiten, ob und wie viel sie mitmachen wollen, und sie müssen jederzeit aussteigen können. Normalerweise haben die Familien ja überhaupt keinen Überblick, was verwendet und ausgestrahlt wird. Darauf müssen sie Einfluss haben.« Man müsse sich klarmachen, »dass Filmbilder ebenso wie die Bilder, die Eltern von ihren Kindern auf den sozialen Netzwerken einstellen, bleiben. Wenn junge Leute sich bewerben, recherchieren manche Firmen im Netz, und einem Mädchen, das im Film etwa eine Rechenaufgabe nicht bewältigt, könnte das zum Nachteil gereichen.«

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Dass sowohl in der Schule als auch beim Dreh mehr Mitbestimmung möglich ist, hat Hella Wenders mit ihren Langzeitstudien »Berg Fidel – Eine Schule für alle« (2011) und »Schule, Schule – Die Zeit nach Berg Fidel« (2017) bewiesen, in denen sie vier Kinder auf einer inklusiven Münsteraner Grundschule und ihrer weiteren Laufbahn begleitet. »Wir haben zwischendurch den Schüler*innen Material gezeigt und einen Workshop gemacht, in dem sie selbst Kamera machen, damit sie verstehen, wie wir arbeiten«, sagte Wenders »nd«. »Wir haben den Film mit den Kindern gemacht. Eine Stufe zwischen Roh- und Feinschnitt haben wir den Eltern und Kindern jeweils einzeln gezeigt, um zu gucken, ob sie das so gut finden. Dass alle mit im Boot sind zu jeder Zeit, ist sehr wichtig.«

Beckermann hat die Kinder ebenfalls selbst mit Handys filmen lassen und ihre Videos in den Film integriert – ein Beitrag zur Selbstermächtigung in einem fremdbestimmten Schulalltag. Während Wenders auch das häusliche Umfeld zeigt, verzichtet Beckermann darauf. »Manche haben auch zu Hause gefilmt und ihre Familie gezeigt. Diese Bilder haben wir nicht verwendet, es wäre mir voyeuristisch vorgekommen.«

In Wenders’ Filmen wiederum äußern die Kinder selbst, was sie an der Schule stört. Kritik am Bildungssystem wird in »Favoriten« und »Herr Bachmann und seine Klasse« aus Lehrer*innensicht formuliert und beschränkt sich (auch in Interviews) vor allem auf fehlende Deutschkenntnisse beim Schulstart, Personal- und Geldnot sowie eine praxisferne Lehramtsausbildung. Einerseits betonen Speth und Beckermann, keine Pädagog*innen zu sein und sich mit dem Thema nicht auszukennen, anderseits beschränken sie sich nicht auf das rein beobachtende Filmen, sondern ergreifen Partei für ihre lehrenden Protagonist*innen, die die Filme mitpromoten, und reagieren empfindlich auf Kritik an ihren teils veralteten Methoden.

Für die Erziehungswissenschaftlerin Petra Moser, die an der Pädagogischen Hochschule Zürich lehrt, sind beide Lehrpersonen weit entfernt von den pädagogischen Vorbildern, als die sie mit den Filmen vermarktet werden: »In beiden Filmen werden Kinder nicht zu kritischen, selbstständigen Menschen erzogen; vielmehr werden ihnen Verhaltensnormen eingetrichtert, mit denen sie der Lehrperson gefallen – sie lernen also, sich sozial erwünscht zu verhalten. Als primäres Erziehungsziel gilt der Gehorsam. Dies geschieht nicht auf offensichtliche Weise, durch Anschreien oder gar Gewaltandrohung, sondern eher versteckt, begleitet von oberflächlichem Lächeln, quirligem Auftreten oder ›Ankumpeln‹. Davon sind nicht nur Filmemacher*innen allzu schnell begeistert und glauben, die Schule der Zukunft gefunden zu haben.«

Bereits der Trailer von »Favoriten« offenbare, so Moser, »eine Schulpraxis, die zum Beispiel Entschuldigungen einfordert, die weder auf Einsicht noch auf Reue fußen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es eine Lehrerbildungsinstitution gibt, die ihren Studierenden Derartiges beibringt. Dass dies in der Praxis gleichwohl nicht selten anzutreffen ist, liegt an einem Hochschul-Praxisgefälle, das vor allem im stressigen Schulalltag zutage tritt: Dann nämlich fallen Lehrpersonen nicht selten in Handlungsmuster zurück, die ihnen selbst aus ihrer eigenen Kindheit allzu vertraut sind, vertrauter als diejenigen, die sie an Hochschulen erlernt haben. Eine Möglichkeit, dem entgegenzutreten, wäre, an Hochschulen einen größeren Akzent auf Biografiearbeit zu legen.«

Insofern verraten die Filme trotz und wegen ihrer blinden Flecken – der zu kurz greifenden Kritik am System und der mangelnden Beteiligung der Kinder, die ihm ausgesetzt sind – einiges über den realen Schulalltag und seine Grenzen.

»Favoriten«: Österreich 2024. Regie: Ruth Beckermann. 118 Minuten.
»Herr Bachmann und seine Klasse«: Deutschland 2021. Regie: Maria Speth. 217 Minuten.
»Berg Fidel – Eine Schule für alle«: Deutschland 2012. Regie: Hella Wenders. 88 Minuten.
»Schule, Schule – Die Zeit nach Berg Fidel«: Deutschland 2017. Regie: Hella Wenders. 94 Minuten.

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