Im Takt der Sirenen

Odessa wird ständig aus der Luft angegriffen. Trotzdem lebt die Stadt nicht mehr nur im Ausnahmezustand

  • Kathrin Eger, Odessa
  • Lesedauer: 7 Min.
Lebensfreude kehrt zurück nach Odessa: Der Pianist Igor Jantschuk gibt ein Konzert am Strand.
Lebensfreude kehrt zurück nach Odessa: Der Pianist Igor Jantschuk gibt ein Konzert am Strand.

Die Sirenen des Luftalarms verklingen mit der zunehmenden Tiefe des Schwarzen Meeres. Doch das Wasser ist kein Rückzugsort, denn die Stille könnte nur von kurzer Dauer sein. Erst am Vortag hat ein ukrainisches Minenabwehrschiff eine Seemine lokalisiert. Kurz nach Beginn der Invasion Anfang 2022 verminte die russische Marine ukrainische Häfen, um unter anderem die wirtschaftlich wichtige Ausfuhr von Getreide zu unterbinden. Viele der Minen liegen immer noch vor Odessa im Wasser. Immer wieder werden einige in die Nähe der Strände gespült und verletzen dort die Badenden.

Die am Vortag entdeckte Mine soll jetzt eine Unterwasser-Spezialeinheit entschärfen. Einer der Taucher ist Mischa. Mit Metalldetektoren und speziellen Sonargeräten sucht er den Meeresboden systematisch nach den tödlichen Hinterlassenschaften ab.

Der wolkenlose Morgen hilft den Tauchern bei der Suche. »Manchmal ist die Sicht unter Wasser so klar, dass wir Objekte aus mehreren Metern Entfernung erkennen können, und an anderen Tagen können wir kaum die Hand vor Augen sehen«, erklärt Serhij, der an der Oberfläche geblieben ist. »Doch heute ist das Wetter gut und die Strömungen sind ruhig«, ergänzt Viktor, der die meteorologischen Bedingungen im Blick behält. Mischa, der gerade taucht, ist der erfahrenste Minenräumer der Gruppe. »Wenn wir auf eine Mine stoßen, geht meistens nur einer von uns nach unten, manchmal auch zwei«, erklärt Serhij weiter. »Jeder von uns ist darauf trainiert, diese Einsätze allein durchzuführen, weil wir das Risiko auf ein Minimum reduzieren müssen. Sollte etwas schiefgehen, darf es nicht das gesamte Team treffen.«

Den Luftalarm ignorieren die Taucher inzwischen. »Wir haben uns daran gewöhnt«, sagt Serhij. »Unsere Arbeit ist allein schon viel zu riskant, da können wir uns nicht noch Gedanken über Raketen machen. Wir müssen nur aufpassen, dass die Kommunikation während des Einsatzes aufrechterhalten bleibt.« Jeder Handgriff muss sitzen, jede Bewegung genauestens durchdacht sein.

Noch ist unklar, um welche Art von Mine es sich heute handelt, denn das Schwarze Meer birgt auch jahrzehntealte Sprengsätze, die nach wie vor eine tödliche Wirkung haben. Während eines Einsatzes vor einigen Jahren entfernte Mischa einen 70 Jahre alten Sprengsatz aus dem Sand, der dort seit dem Zweiten Weltkrieg verborgen gewesen war. »Manchmal frage ich mich, wie lange Mischa das noch durchhält«, bemerkt Serhij. »Ich mache das erst seit zwei Jahren, und schon jetzt fällt es mir allmählich schwer. Aber Mischa hält das seit 20 Jahren durch.« »Du fühlst dich unsicher, weil du ein Neuling bist«, entgegnet Viktor, »und Mischa nicht. Deshalb schafft er es auch heute.«

Hotels, Restaurants und Bars haben geöffnet, wenn auch nur bis 23 Uhr, damit pünktlich zur mitternächtlichen Ausgangssperre jeder nach Hause kommt.

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»Das Gute ist«, fügt Viktor hinzu, »dass unser Beruf wohl niemals aussterben wird. Wie viele Jahre nach Kriegsende werden unsere Kollegen noch damit beschäftigt sein, das Schwarze Meer von den Minen zu befreien, die derzeit gelegt werden?« Viktor klopft Serhij lachend auf den Rücken. Sie haben auch im Krieg ihren Humor nicht verloren.

Das sonnenerwärmte Schwarze Meer zieht die bereits erwachte Stadtbevölkerung an die Strände von Odessa. Trotz der fast täglichen Luftalarme hat sich die Stadt im Sommer zu einem Touristenmagnet entwickelt, der Menschen aus verschiedenen Teilen des Landes anzieht. Die Straßen der Hafenstadt, die zu Beginn des Krieges oft verlassen waren, sind wieder belebt. Hotels, Restaurants und Bars haben geöffnet, wenn auch nur bis 23 Uhr, damit pünktlich zur mitternächtlichen Ausgangssperre jeder nach Hause kommt.

Im historischen Zentrum von Odessa, das 2023 in die Welterbe-Liste der Unesco aufgenommen wurde, spielt vor dem prächtigen Opernhaus ein Gitarrist das Lied »Gebet« von Bulat Okudschawa, einem der bedeutendsten russischen Dichter und Sänger der Sowjetzeit. Odessa hat viele seiner kulturellen Schätze bewahrt. Zahlreiche Straßen tragen noch immer Namen, die auf die russische Geschichte verweisen. Wie die große »Katerynynska«, benannt nach Zarin Katharina II., die das heutige Odessa gegründet hat. Oder die »Puschkinska«, die nach dem russischen Poeten Alexander Puschkin benannt ist, der vor 200 Jahren hier lebte. Erst vor wenigen Tagen bestätigte der Bürgermeister der Stadt die Entscheidung, Puschkins Denkmal an seinem Platz zu belassen.

Im Laufe des Krieges wurde Odessa zu einem Zufluchtsort für Menschen, insbesondere aus den stark umkämpften Regionen wie Mariupol, Cherson und Mykolajiw im Osten des Landes. Auch viele Soldaten finden in der Stadt einen sicheren Rückzugsort, um sich in den beiden großen Rehakliniken von den Fronteinsätzen zu erholen. Die meisten haben schwere Beinverletzungen, viele von ihnen Amputationen erlitten. Jurij sitzt mit seinem verbliebenen Bein auf einer Matte, die von medizinischen Geräten und Gymnastikbändern umgeben ist. Neben ihm kniet eine freiwillige Helferin. Mit ruhiger Stimme und ermutigenden Worten führt sie Jurij durch eine Reihe von Übungen. Sie hilft ihm, sein Gleichgewicht zu halten, während er mit den Händen aufgestützt versucht, sein Körpergewicht auf das verbleibende Bein zu verlagern.

Plötzlich wird die Ruhe in der Klinik von einer gewaltigen Explosion durchbrochen. Eine Rakete hat den Hafen getroffen, nur wenige Kilometer von der Klinik entfernt. Die Druckwelle lässt die Fenster klirren, gefolgt von dichtem Rauch, der in den Himmel aufsteigt. In den Gängen breitet sich Hektik aus, einige Besucher eilen in die Schutzräume. Während die Sirenen des Luftalarms erklingen, bleibt Jurij auf der Matte liegen, seine Helferin bleibt an seiner Seite. Draußen sehen sie die Feuerwehr an der Klinik vorbeirauschen.

Seit Moskau im Juli 2023 aus dem Getreideabkommen ausgestiegen ist, das unter der Vermittlung der UN und der Türkei dem angegriffenen Land die Ausfuhr landwirtschaftlicher Güter über das Schwarze Meer ermöglichte, nimmt die russische Armee die Häfen von Odessa immer wieder unter Beschuss. Zahlreiche Hafenarbeiter sind dabei schon getötet worden, und große Mengen an Getreidevorräten gehen verloren.

Seit ukrainische Streitkräfte im August ihre Kursk-Offensive auf russischem Gebiet gestartet haben, intensiviert die russische Armee ihre Angriffe auf die ukrainische Infrastruktur, was landesweit zu Stromausfällen führt – auch in Odessa. Raketen- und Drohnenangriffe prägen hier mittlerweile den Alltag. Die Nähe zur Halbinsel Krim bedeutet, dass einige Raketen die Stadt binnen Minuten erreichen – oft noch bevor der Luftalarm überhaupt ertönt.

An diesem Tag fordert die Explosion zwei Menschenleben, zwei weitere werden schwer verletzt. »Das Wichtigste ist, dass man immer wieder die Kraft findet weiterzumachen«, sagt Jurij. »Ja, ich habe mein Bein verloren und Schreckliches erlebt. Doch jetzt erhole ich mich und möchte wieder leben.«

Viele ehemalige Soldaten haben in den Kämpfen Traumatisierungen erlitten. Sie stehen vor der großen Herausforderung, sich auch von ihren seelischen Leiden zu erholen, um ihr Leben wieder aufzubauen. »Dafür ist Zusammenhalt das Wichtigste«, bekräftigt die freiwillige Helferin. »Niemand wird hier allein gelassen«, verspricht sie. Nach den Übungen hilft sie Jurij zurück in seinen Rollstuhl und bespricht mit ihm die Fortschritte des Tages. Gegen 17 Uhr holt ihn seine Schwester Sara ab und begleitet ihn nach Hause.

Vorbei an den Synagogen, deren Fassaden sanft in der Abenddämmerung schimmern, bemerken sie eine kleine Gruppe von Gläubigen, die sich für das Abendgebet versammeln. Als sie das alte jüdische Viertel Moldawanka erreichen, fallen Jurij einige Rekrutierer der Armee auf, die wieder nach Männern im wehrfähigen Alter suchen. Vor allem in den Randbezirken sind sie aktiv. »Hier gibt es besonders viele Rekrutierer. Die Soldaten werden nun mal knapp.« Der Bus hält an, und die Mitfahrenden helfen Jurijs Schwester, ihn aus dem Bus herauszuheben. »Ich rate den Jungs, zu Hause zu bleiben«, meint Sara aufgebracht. »Will ein normaler Mensch so leben?«, ergänzt sie und zeigt auf ihren Bruder. Jurij ist nicht das erste Familienmitglied, das dem Krieg zum Opfer gefallen ist. Der Vater der beiden ist vor zwei Jahren bei Cherson gefallen.

Am Abend füllen sich die Cafés mit Menschen, und Straßenmusiker erzeugen eine geradezu gemütliche Stimmung. Es ist, als ob die Stadt für einen Moment innehielte, um die Schönheit und den Reichtum ihrer Geschichte spüren zu lassen. Eine frische Meeresbrise streift die Zuhörenden.

Auch an der Küste wird es für die Minenräumer ruhiger. Als sich die Sonne hinter die Wolken zurückzieht, wird die Sicht unter Wasser schlechter. Die Strömungen werden auch stärker, und Mischa muss seine Arbeit für heute beenden. Er ist müde, aber erleichtert, als er sich der Oberfläche nähert. Über Wasser hört er keine Musik mehr. Sie ist abrupt verstummt, als erneut der schrille Klang der Sirenen ertönt.

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