»Die Gewalt war grauenhaft, aber es war absolut kein Pogrom«

Der Historiker Enzo Traverso über Antisemitismus, den 7. Oktober und die Umdeutung von Erinnerung

  • Interview: Raul Zelik
  • Lesedauer: 12 Min.
Rund 800 israelische Zivilisten und 400 Sicherheitskräfte wurden am 7. Oktober 2023 durch den Angriff der Hamas und anderer palästinensischer Gruppen getötet.
Rund 800 israelische Zivilisten und 400 Sicherheitskräfte wurden am 7. Oktober 2023 durch den Angriff der Hamas und anderer palästinensischer Gruppen getötet.

Bevor wir über Ihr Buch über den Krieg in Gaza sprechen, möchte ich mehr über Ihren Werdegang als Historiker erfahren. Sie stammen aus Italien, gingen 1985 nach Paris und haben dort mit dem brasilianischen Philosophen Michael Löwy gearbeitet. Viele Jahre lang haben Sie vor allem zum Antisemitismus geforscht. Wie kam es dazu?

Die 1980er Jahre waren nicht unbedingt ein Jahrzehnt des Antisemitismus, die Zeit war eher vom Aufstieg der Islamophobie geprägt. Aber die Erinnerung an den Holocaust gewann damals an Bedeutung. Ich erinnere mich, dass der 40. Jahrestag der antisemitischen Gesetze in Italien 1978 noch überhaupt keine Rolle gespielt hatte. Doch nun änderte sich das. Der französische Dokumentarfilm »Shoa« von Claude Lanzmann wurde im Fernsehen gezeigt …

… in Deutschland verhinderte der Bayerische Rundfunk damals die Ausstrahlung im ersten Programm …

… und Primo Levis letztes Buch »Die Untergangenen und die Geretteten« erschien. Nach einer Phase der historischen Verdrängung eignete man sich Geschichte neu an. Außerdem war das Jahrzehnt von Migration geprägt. Italien wurde zum Einwanderungsland, überall in Europa stellte sich die Frage nach der religiösen, ethnischen und kulturellen Vielfalt als einem Merkmal europäischer Identität. Das alles veranlasste mich, mich mit der sogenannten »Judenfrage« zu beschäftigen. Wie das Wort schon nahelegt, war es eine Annäherung über den Marxismus. In Italien war ich als Jugendlicher in der radikalen Linken aktiv gewesen und in Paris begegnete mir nun der Soziologe und Denker Michael Löwy. Er ist eine sehr interessante Figur: Seine Familie kommt aus dem zentraleuropäischen Judentum, er selbst wurde in Brasilien geboren und lebte in den 1960ern einige Jahre in Israel. Bei Löwy sind kritische Theorie und Marxismus aus lateinamerikanischer Sicht gedacht. Das hat mich interessiert, und daraus ging mein erstes Buch hervor: »Die Marxisten und die jüdische Frage«.

Interview

Der Historiker Enzo Traverso, Jahrgang 1957, politisierte sich im Italien der 1970er Jahre, ging 1985 nach Paris und forschte dort vor allem zur Bedeutung des Antisemitismus. Seit einigen Jahren ist er Professor an der Cornell University, New York. Wenige Monate nach der Eskalation des israelisch-palästinensischen Krieges im Oktober 2023 veröffentlichte er das Buch »Gaza faces History«, in dem er der europäischen Erinnerungspolitik vorwirft, sich in ein Werkzeug zur Rechtfertigung der Massaker an der palästinensischen Bevölkerung verwandelt zu haben.

In Deutschland wurden Sie bekannt, weil Sie eine scharfe Kritik an der Linken formulierten. Sie sagten, dass der Marxismus die Bedeutung des Antisemitismus immer unterschätzt habe. Die Ableitung des Antisemitismus aus ökonomischen Interessen sei falsch.

Mich hat zunächst die Rolle des Judentums im Marxismus interessiert. In Italien und Frankreich waren viele Juden im 19. Jahrhundert relativ gut in den Staatsapparat integriert gewesen, der Weg ins Establishment stand ihnen offen. Im deutschsprachigen Mitteleuropa und in Russland hingegen war das anders. Dort wurden sie, wie es Hannah Arendt ausgedrückt hat, als »Paria«-Minderheit behandelt. Das hat es begünstigt, dass sich viele von ihnen der revolutionären Linken zuwandten. Interessanterweise haben sich diese jüdischen Marxisten aber gar nicht als Juden begriffen. Internationalismus und Kosmopolitismus bedeuteten für sie die Überwindung der jüdischen Tradition. Sie waren »nicht-jüdische Juden«, wie Isaac Deutscher es genannt hat. Ich denke, das erklärt teilweise, warum der Marxismus lange Zeit so blind für den Antisemitismus war. Ganz in der Tradition der Aufklärung war er der Überzeugung, dass der Antisemitismus ein vormodernes Vorurteil sei. Ein archaisches, obskurantistisches Phänomen. Das hat alle marxistischen Strömungen der Zwischenkriegszeit geprägt. 1939 veröffentlichte Max Horkheimer den Essay »Die Juden und Europa«, in dem er Antisemitismus als Ausdruck des Monopolkapitals interpretierte. Und der Sozialwissenschaftler Franz Neumann schrieb 1942, als in Auschwitz die Gaskammern in Betrieb genommen wurden, dass die Juden für den Nationalsozialismus eine unverzichtbare Rolle als Sündenbock spielten und deshalb von den Nazis nicht vernichtet werden würden.

Seit dem 8. Oktober hat die israelische Armee den Gazastreifen weitgehend zerstört.
Seit dem 8. Oktober hat die israelische Armee den Gazastreifen weitgehend zerstört.

Ihr neues Buch »Gaza faces History« geht jetzt über den Krieg gegen die palästinensische Bevölkerung. Vielleicht können Sie uns erst einmal schildern, wie Sie den 7. Oktober 2023 wahrgenommen haben, als Hamas die Mauer durchbrach und Hunderte Zivilisten tötete.

Ich dachte, dass dieser Angriff einem Selbstmord der Palästinenser gleicht. Nach internationalem Recht darf sich ein unterdrücktes Volk auch mit Waffen zur Wehr setzen, aber es gibt illegitime Formen dieser Gewalt. Hamas, eine fundamentalistische Bewegung, verübte ein Massaker an Zivilisten, und das ist keine gerechtfertigte Form des Widerstands. Das war meine erste Reaktion, aber schon wenige Tage später wurde das von dem Entsetzen überlagert, wie über den 7. Oktober gesprochen wurde. Die westlichen Staatschefs und Medien setzten das Narrativ vom »größten Pogrom seit dem Holocaust« in die Welt. Das ist eine völlig falsche Darstellung. Ein Pogrom ist ein geplanter Gewaltausbruch, der von einem Regime gegen eine unterdrückte Minderheit in Gang gesetzt wird. Am 7. Oktober 2023 aber geschah das Gegenteil: Es war der geplante Gewaltausbruch einer unterdrückten Minderheit gegen ein Regime. Wie gesagt: Die Gewalt war grauenhaft, aber es war absolut kein Pogrom.

Warum ist es so wichtig zu entscheiden, ob der Begriff des Pogroms passend ist?

Weil mit diesem Narrativ ein Ziel verfolgt wird: Der 7. Oktober soll in die Geschichte des Antisemitismus eingeordnet werden. Nach dem Motto: Die Palästinenser hassen die Juden aus antisemitischen Motiven. Das jedoch verschleiert den zugrundeliegenden Konflikt. Die Palästinenser werden seit Jahrzehnten durch Israel unterdrückt, Gaza ist seit 2007 abgeriegelt. Mit dem Antisemitismus-Vorwurf soll diese Gewalt unsichtbar gemacht und die Reaktion Israels legitimiert werden. Und uns muss auch klar sein, dass diese Reaktion nicht einfach »übertrieben« oder »maßlos« ist. Die israelische Regierung verfolgt erklärtermaßen das Ziel, die materiellen Lebensbedingungen und Infrastrukturen in Gaza zu zerstören.

Ich erinnere mich an das Bild einer jungen, halbnackten jüdischen Frau, die unter dem Ruf »Allah ist groß« wie eine Trophäe durch Gaza gefahren wurde. Palästinensische Kanäle haben die Bilder selbst verbreitet – das war keine israelische Propaganda. Ist das kein Hass auf Juden?

Vor dem Massaker des 7. Oktober: Palästinenser durchbrechen den Zaun um Gaza.
Vor dem Massaker des 7. Oktober: Palästinenser durchbrechen den Zaun um Gaza.

Natürlich, es gab fürchterliche palästinensische Handlungen, die durch nichts zu entschuldigen sind. Aber ich könnte Ihnen auch Dutzende von Aufnahmen zeigen, auf denen man sieht, wie israelische Soldaten Palästinenser rassistisch erniedrigen. Diese Formen der Gewalt sind widerlich, aber sie haben mit der Dynamik des Krieges zu tun. Und in diesem Zusammenhang muss man sehen, dass Gaza ein abgeriegeltes Internierungslager, ein palästinensisches Ghetto ist. Die große Mehrheit der überwiegend sehr jungen Bevölkerung kennt nichts anderes als diesen Zustand. Es liegt auf der Hand, warum der Hass auf die Israelis in der palästinensischen Bevölkerung so verbreitet ist. Aber ich halte es für inakzeptabel, das als Wiederkehr jenes ewigen Antisemitismus zu interpretieren, wie er sich in der christlichen Welt entwickelt hat.

Sie schreiben von einer Schuldumkehr: Der Westen habe die Israelis zu Opfern, die Palästinenser zu Tätern gemacht. In Wirklichkeit allerdings sei es umgekehrt. Ist es so einfach? Sicher, die Palästinenser sind Vertriebene. Sie leben in der Dritten Welt, während Tel Aviv zur Ersten gehört. Aber ein vergleichbarer Gegensatz besteht doch auch zwischen Gaza und Dubai.

Mein Buch ist keine Unterstützung der arabischen Länder, die bei der Unterdrückung der Palästinenser Komplizen sind. Einige arabische Länder hatten ja gerade erst das sogenannte Abraham-Abkommen unterzeichnet, das auf einen Friedensschluss ohne Palästinenser abzielt. Wenn man den 7. Oktober verstehen will, dann muss man diesen Zusammenhang erkennen. Die extreme Gewalt ist Ausdruck der Ohnmacht der Palästinenser im Westjordanland und der siebzehnjährigen Abriegelung Gazas, an der sich Ägypten aktiv beteiligt. Der 7. Oktober war die Antwort von Hamas auf die arabisch-israelischen Friedensverträge. Und tatsächlich hat Hamas erreicht, dass heute eine Friedenslösung ohne die Palästinenser nicht mehr vorstellbar ist. Ich wiederhole es noch einmal: Das entschuldigt ihre Gewalt nicht, und Hamas wusste, dass ihre Aktion Israels Rache heraufbeschwören würde. Es geht mir also gewiss nicht um eine dichotomische Sicht, bei der Israel der Bösewicht und die arabischen Länder die Opfer sind. Es gibt einen regelrechten Wettbewerb zwischen den antijüdischen Parolen der Hamas und den rassistischen Drohungen der israelischen Regierung – das ist beides überhaupt nicht hilfreich.

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Ist die arabische Erzählung vom harmonischen Zusammenleben der muslimischen Welt mit den Juden vor der Gründung Israels nicht auch eine Legende?

Ich denke, wir sollten das deutlich vom Antisemitismus der westlichen Welt unterscheiden. Die Lage der Juden in der arabischen Welt war über Jahrhunderte deutlich besser als die in den christlichen Ländern. Trotzdem gab es auch dort eine Diskriminierung. Und mit der Staatsgründung Israels und den arabisch-israelischen Kriegen wurde die Stimmung in Algerien, dem Irak, Marokko oder Ägypten immer feindseliger gegen die jüdischen Gemeinden in diesen Ländern. Aber Netanjahus Erzählung, dass der Großmufti von Jerusalem als Ideologe hinter dem Holocaust steckte, ähnelt den antisemitischen Verschwörungserzählungen der Rechten. Das ist völliger Unsinn. Ich denke, dass wir es hier mit einer zionistischen Mythologie von einem universellen Antisemitismus zu tun haben, der den traditionellen Antisemitismus und seine Erzählung einer jüdischen internationalen Konspiration in gewisser Hinsicht spiegelt. In Wirklichkeit gab es im ehemaligen Ottomanischen Reich eine sehr reiche jüdische Kultur, die ab 1948 von den arabischen Ländern und Israel zerstört wurde.

Ihr Buch »Gaza faces History« ist mittlerweile auf Italienisch, Spanisch, Französisch und Englisch veröffentlicht worden. Aber obwohl es sich stark auf die deutsche Debatte bezieht, gibt es bei uns bislang keine Ausgabe. Warum?

Es wird demnächst in dem kleinen Verlag »Wirklichkeit Books« erscheinen, was mich sehr freut. Aber es stimmt: Größere Verlage haben abgewunken. Und auch wenn ich nicht sagen würde, dass ich das Buch für eine deutsche Leserschaft geschrieben habe, stimmt es, dass es die Situation in Deutschland zum Ausgangspunkt nimmt. In Deutschland wurde nämlich nicht nur der Holocaust geplant, sondern auch die Erinnerungspolitik spielt eine besondere Rolle. Das halte ich für sehr bemerkenswert. In Italien fehlt bis heute jede Aufarbeitung der eigenen Verbrechen. Obwohl der italienische Faschismus 1935 einen Völkermord in Äthiopien organisierte und Konzentrationslager in Libyen einrichtete, wird darüber in Italien nicht gesprochen. Deutschland hingegen hat einen wichtigen erinnerungspolitischen Prozess durchgemacht.

Etwa 40 000 Palästinenser, der Großteil von ihnen Zivilisten, haben durch die israelischen Angriffe seit Oktober 2023 ihr Leben verloren.
Etwa 40 000 Palästinenser, der Großteil von ihnen Zivilisten, haben durch die israelischen Angriffe seit Oktober 2023 ihr Leben verloren.

Sie sagen aber auch, dass sich das gerade verschiebt.

Ja, meiner Meinung nach erleben wir gerade eine Metamorphose der Erinnerung, die zunehmend als Vehikel zur Unterstützung des genozidalen Kriegs Israels in Gaza dient. Das hat fürchterliche Konsequenzen, denn es zerstört etwas, das über Jahrzehnte erkämpft werden musste. Das Holocaust-Mahnmal in Berlin wurde ja nicht einfach so gebaut, sondern musste in einem schmerzhaften Prozess durchgesetzt werden. Viele Menschen in der Welt werden jetzt zu der Einschätzung gelangen: »Wenn die Erinnerung an den Holocaust dazu dient, einen Genozid wie den in Gaza zu verüben, dann ist Erinnerung etwas Gefährliches.« Die Instrumentalisierung der Erinnerung wird letztlich dazu beitragen, den Geschichtsrevisionismus zu befeuern. Das halte ich für extrem beunruhigend.

Der Kampf gegen den Antisemitismus gilt in Deutschland als »Staatsräson«. Sie schreiben in Ihrem Buch, das sei ein brandgefährlicher Begriff. Was steckt hinter der Staatsräson?

Man kann es bei Machiavelli nachlesen: Die Staatsräson ist so etwas wie die dunkle, verborgene Seite des Rechtsstaats. Sie erlaubt es einer liberalen Demokratie, die die Todesstrafe längst abgeschafft hat, Hinrichtungen im eigenen Interesse zu organisieren. Oder wie in Guantanamo ein Gefängnis einzurichten, das außerhalb des nationalen und internationalen Rechts steht. In diesem Sinne steht die Staatsräson im Widerspruch zur Demokratie und ist über dem Gesetz angesiedelt. Oder wie es Giorgio Agamben ausgedrückt hat: Sie ist der Ausnahmezustand. Wenn Olaf Scholz und Angela Merkel von »Staatsräson« sprechen, heißt das, dass es etwas gibt, das über dem Recht steht. Und damit vermittelt man: Ihr könnt machen, was ihr wollt. Ich halte es für extrem wichtig, dass der Kampf gegen Antisemitismus in Deutschland ins geschichtliche Bewusstsein integriert wurde. Aber der Kampf gegen den Antisemitismus ist nicht identisch mit der Verteidigung Israels.

Ist nicht auch in der internationalen Linken vieles durcheinander geraten? In vielen Ländern wird Hamas von Linken als »nationale Befreiungsbewegung« gefeiert. Dabei zeigt die Entwicklung des Iran seit 1979 doch recht deutlich, wo religiöse Revolutionen dieser Natur hinführen: sie sind antifeministisch, antikommunistisch und reaktionär.

Ja, Hamas ist eine antidemokratische, autoritäre, frauenfeindliche und homophobe Bewegung und wäre in einer freien Gesellschaft der Feind der Linken. Das liegt auf der Hand. Aber wer zum palästinensischen Widerstand gehört und wer nicht, entscheiden nicht wir, sondern die Palästinenser. Selbstverständlich würden wir uns etwas anderes wünschen, aber Tatsache ist, dass Hamas die führende Kraft des Widerstands gegen die Besatzung ist. Ihre Mitglieder sind es, die in den Tunneln gegen Israel kämpfen, und deshalb erkennt mittlerweile wohl auch eine Mehrheit der Palästinenser im Westjordanland die Hamas als Führungskraft an. Auch Israel sieht das so: Man verhandelt mit der Hamas, nicht mit der PLO.

Worin könnte eine emanzipatorische Lösung des Nahost-Konflikts bestehen? Dass alle Menschen, die heute dort leben, bleiben und alle, die vertrieben wurden, zurückkehren können?

Das Bleiberecht der Juden wird auch von Hamas nicht infrage gestellt. 2014 und 2017 gab es Veränderungen in der Hamas-Charta, die besagen, dass die Organisation einen Staat in Gaza, der Westbank und Ost-Jerusalem errichten will. Außerdem gab es vor 1948 in Palästina eine jüdische Gemeinschaft, deren Existenz als selbstverständlich erachtet wird. Und es existiert heute eine israelische Nation mit einer lebendigen Sprache und Kultur. In diesem Konflikt geht es meiner Ansicht nach deshalb nicht um das Existenzrecht dieser Nation, sondern um das Recht der Juden, in einem Staat der Juden und für die Juden zu leben. Einem Staat, der allein für Juden reserviert ist – und das in einem Territorium, in dem auch Millionen Palästinenser leben. Heute gilt »From the river to the sea« in vielen Ländern als antisemitische Parole. Aber wer den Landstrich zwischen Fluss und Meer faktisch allein für sich beansprucht, ist Israel. Die israelische Armee kontrolliert das ganze Gebiet, und die israelische Regierung hat klar gesagt, dass sie keinen zweiten Staat dort dulden wird. Es ist also der heute vorherrschende radikale Zionismus, der eine rassistische Interpretation des »From the river to the sea« propagiert.

Muss Israel zu einer Zweistaatenlösung gezwungen werden?

Die Anerkennung Palästinas durch Spanien und andere EU-Staaten ist eine gute Sache, aber ich glaube nicht an die Zweistaatenlösung. Aufgrund der Geografie, der Infrastrukturen und der demografischen Durchdringung wird das kaum durchsetzbar sein. Die einzige denkbare Friedenslösung ist ein plurinationaler Staat, möglicherweise eine Föderation oder eine andere, neu zu erfindende Form, die die völlige Rechtsgleichheit aller Bürger garantiert. Unabhängig davon, ob sie sich als Palästinenser, Juden, Muslime, Christen oder etwas anderes begreifen, und unabhängig davon, ob sie Hebräisch oder Arabisch sprechen. Das ist zugegebenermaßen schwierig. Aber ein Staat, der Juden aus der ganzen Welt die Staatsbürgerschaft garantiert, aber die Rückkehr der von dort vertriebenen Bevölkerung und ihrer Nachkommen verhindert – das ist inakzeptabel. Anderswo scheint uns das mittlerweile selbstverständlich. Die BRD beruhte lange Jahre auf einem »ius sangunis«, dem Blutsrecht. Die Nachkommen deutschstämmiger Menschen aus Russland wurden aufgenommen, während die seit Generationen in Deutschland lebenden Migranten Fremde blieben. Ein solcher Volksbegriff kann keinen Bestand haben. Ich verstehe nicht, warum die BRD, die ihre Staatsbürgerschaft reformiert hat, uneingeschränkt ein Land verteidigt, das 2018 zu einem »völkischen Staat« geworden ist. Ethnoreligiöse Staaten sind Anachronismen. Wenn Israel diesen Widerspruch nicht löst, wird es trotz aller militärischen Stärke nicht überleben.

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