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- Internationale Solidarität
Berlin: Sorgearbeit von unten
Die Kreuzberger Kiezkantine bekocht wöchentlich mehr als 50 Berliner und zeigt, warum Essen politisch ist
»Ob die reichen?«, fragt eine Köchin einen anderen Koch. Die beiden schauen auf zehn Dosen Kichererbsen, die sie für ein Curry verwenden wollen. Das Rezept hat die Köchin aus dem Internet und an circa 50 Personen angepasst. Mit so vielen Besucher*innen rechne sie heute Abend, wie sie »nd« sagt. Es sei nicht immer ganz einfach abzuschätzen, wie viele Menschen am Dienstagabend in die Oranienstraße kommen, um sich gegen eine Spende ein warmes Essen zu holen.
Doch an diesem Abend sind die Räume bereits vor der Essensausgabe gut besucht. »Ça va?«, »Nasılsın?« und »How are you?« (französisch, türkisch, und englisch: Wie geht’s?) begrüßen Ankommende in verschiedenen Sprachen einander, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen. »Solidarität« steht auch in großen Buchstaben am Eingang der Kiezkantine geschrieben – ebenfalls in verschiedene Sprachen übersetzt. Jede*r sei hier erst mal willkommen, erklären Aktive in der Kiezkantine an diesem Abend. Doch insbesondere für rassifizierte Menschen sei der Ort ein wichtiger Anker im Kiez. Hier herrsche nicht nur eine Politik der offenen Tür, die Kiezkantine sei auch eine Art Rückzugsraum für Aktivist*innen, die sich rund um den Oranienplatz in Kämpfen für migrantische Selbstbestimmung organisieren.
Der tägliche Strom an Nachrichten über Krieg, Armut und Klimakrise bildet selten ab, dass es bereits Lösungsansätze und -ideen, Alternativprojekte und Best-Practice-Beispiele gibt. Wir wollen das ändern. In unserer konstruktiven Rubrik »Es geht auch anders« blicken wir auf Alternativen zum Bestehenden. Denn manche davon gibt es schon, in Dörfern, Hinterhöfen oder anderen Ländern, andere stehen bislang erst auf dem Papier. Aber sie zeigen, dass es auch anders geht.
Jeden Sonntag schon ab 19 Uhr in unserer App »nd.Digital«.
Neben Kichererbsendosen liegen grüne Petersilie, frische Minze, knallgelbe Zitronen und kleine Ingwerknollen auf dem Tisch vor den Köch*innen, die an diesem Abend ein Curry mit Reis, Salat und Joghurt zubereiten. In dem Raum, in dem sie kochen, befindet sich neben einer großen Küche, vielen Ess- und Sitzgelegenheiten auch ein Computerplatz. Eine Frau bittet die Anwesenden um Rat zur Benutzung des Rechners: Sie wolle dringend ins Internet, um die Nachrichten zu lesen, sagt sie.
»Kein Dienstag ist wie der andere«, erzählt Max gegenüber »nd«. Er gestaltet seit der Gründung der Kiezkantine 2019 den Raum mit und erklärt, dass man sich hier das Kochen und Putzen im Rotationsprinzip gerecht untereinander aufteile. Trotz des »zwang- und zwecklosen Zusammenkommens« beim Essen, böte der Raum auch einen Ort für politische Organisierung: Um sich zu vernetzen, zu diskutieren oder einfach nur, um miteinander ein wenig Menschlichkeit zu teilen.
Worauf viele Aktive in der Kiezkantine besonders stolz sind: Während der Corona-Pandemie habe man das Angebot bis auf ein paar pausierte Monate aufrechterhalten können. Um die Ansteckungsgefahr gering zu halten, traf man sich zeitweise auf dem Oranienplatz. Mit mobilen Kochstationen, Bänken und Tischen sowie den großen Suppentöpfen, aus denen auch heute noch wöchentlich Kreuzberger*innen verköstigt werden. »Der O-Platz ist ein sehr wichtiger Ort für die Kiezkantine«, erzählt Nujud »nd«. Geflüchtete Besetzer*innen des O-Platzes, wie der Oranienplatz oft genannt wird, sind ebenfalls Teil der Kiezkantine geworden.
»Jede Woche ein Überraschungsei«, lacht Elif, die im Gespräch mit »nd« das einzigartige Gemeinschaftsgefühl der Kiezkantine zu beschreiben versucht. Für Elif ist klar: Hier treffen sich Menschen, die in der Mehrheitsgesellschaft oft ausgeschlossen sind. »Wenn in so einem Raum so viele prekär lebende Menschen zusammenkommen, dann erkennt man irgendwie das geteilte Problem«, sagt sie. Während des Gesprächs mit Elif und Nujud auf dem Gehweg vor der Kiezkantine kommt eine Nachbarin mit Hund vorbei. Ob sie heute zum Essen komme, fragt Nujud. Vielleicht schon, antwortet sie.
Die Aktiven nennen ihr Projekt »Sorgeinfrastruktur von unten«. Nujud weiß, dass es politisch nicht darum gehen dürfte, den Sozialstaat aus der Verantwortung zu ziehen. Doch die Sparpolitik der Regierenden vernachlässige insbesondere die grundlegenden Sorgebedürfnisse von marginalisierten Menschen wie Geflüchteten, Wohnungslosen oder Armen. Von »struktureller Sorglosigkeit« spricht Nujud, ein Begriff aus den kritischen Sozialwissenschaften.
Für sie geht es beim gemeinsamen Kochen und Essen darum, Alternativen aufzuzeigen zu einem kaputt gesparten Sozialsystem, dass in dem geringen sozialen Angebot, dass es noch gibt, oft kontrollierend auf Menschen wirke. »Die Frage in der Kiezkantine ist: Wie können wir Sorge basisdemokratischer und bedürfnisorientierter organisieren?«, sagt sie. Zusätzlich würden Aktivist*innen nicht selten vergessen, Energie zu tanken. »Das hier ist auch ein Ort, um sich zu erholen als Kontrast zu den anstrengenden politischen Kämpfen.«
Die Kiezkantine will die Tür öffnen für Menschen, die häufig vor verschlossenen Türen stehen. Gerade in Krisenzeiten zeigt sie, wie schnell kleine Netzwerke von unten reagieren können und selbstorganisiert Daseinsvorsorge leisten. Für Mori, der die Kiezkantine seit den Anfängen besucht, entlastet der Ort: »Man muss sich nicht verabreden, man trifft hier einfach Freunde«, sagt er. Für Elif gibt der Raum auch Hoffnung: »Man trifft hier Leute aus dem Kiez, denen es oft nicht gut geht, und sieht sie lächeln.«
Die Kiezkantine finanziert sich nur über Spenden: ISKRA e.V., IBAN: DE29 1005 0000 0190 6228 65, Berliner Sparkasse, Verwendungszweck: Spende
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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