- Kultur
- Massaker des 7. Oktobers
»Deine Gefühle und Überzeugungen entsprechen sich nicht mehr«
Die israelische Künstlerin Noa Arad Yairi über das Trauma des 7. Oktobers und ihre Malerei, die daraus entstanden ist
Noa Arad Yairi, als ich im September das Jüdische Museum in Wien besuchte, sind mir Bilder aus Ihrem Gemälde-Zyklus »October 2023« aufgefallen, die dort als Teil der Ausstellung »Die Dritte Generation. Der Holocaust im familiären Gedächtnis« gezeigt werden. Sie haben in diesen Gemälden versucht, den 7. Oktober und das, was danach passiert ist, künstlerisch zu verarbeiten. Können Sie beschreiben, was Sie damals empfanden?
Es war natürlich ein totaler Schock, sowohl für mich als auch für alle anderen. Nichts hatte uns darauf vorbereitet. Es hat eine Weile gedauert, bis wir verstanden haben, was passiert ist – so groß war unsere initiale Abwehr und Fassungslosigkeit. Erst nachdem immer wieder im Fernsehen über das Massaker berichtet wurde, drang es richtig zu uns durch. Das Ausmaß war schwer zu begreifen. Es waren einfach so viele Menschen, die getötet wurden. Was uns auch bestürzt hat, war, dass die Menschen aus den Kibbuzim und auf dem Festival bei der Polizei und auch bei Reportern Alarm geschlagen haben – und dass trotzdem lange fast niemand gekommen ist, um ihnen zu helfen. Es hat wirklich lange gedauert, bis das Militär vor Ort war. Das hat uns in unseren Grundfesten erschüttert, denn bis zu jenem Zeitpunkt waren wir davon ausgegangen, dass unser Land im Falle eines Angriffs sofort reagieren würde. Wir hatten uns darauf verlassen, von der Polizei und dem Militär beschützt zu werden. In der Linken, zu der ich gehöre, ist es für manche auch schwer, damit umzugehen, dass die meisten der Menschen, die von der Hamas ermordet oder entführt worden sind, progressiv gedacht haben; viele haben sich für den Frieden zwischen Israelis und Palästinenser*innen eingesetzt.
Noa Arad Yairi wurde 1960 in Israel geboren und lebt als Künstlerin in Jerusalem. Sie studierte von 1984 bis 1988 Visuelle Kunst an der NB Haifa School of Design und arbeitet vornehmlich in den Medien Skulptur, Malerei und Performance. Sie lehrt unter anderem an der Bezalel Academy of Art and Design in Jerusalem und ist Gründungsmitglied der Initiative HaMiffal, die junge Künstler*innen in Jerusalem fördert. Arbeiten Arad Yairis wurden in Museen und Galerien in Israel, Europa und den USA gezeigt.
Die Hamas scheint da keinen Unterschied zu machen.
Man fragt sich: Wofür habe ich mein Leben lang gekämpft? All die Demonstrationen gegen unsere rechte Regierung, all die Freiwilligenarbeit, die Friedensinitiativen, alles. Es war grauenhaft. Weil es Menschen wie man selbst waren, die zu Opfern der Hamas wurden, fühlt man sich, als könne man der oder die Nächste sein. Mein Sohn hätte einer der Festivalbesucher*innen sein können; ich hätte mich in einem der Kibbuzim aufhalten können. Die erste Reaktion, die alle aus meinem Umfeld hatten, war, ihre Türen auf Sicherheit zu überprüfen. Wäre es einfach für jemanden, der dich entführen oder ermorden will, in dein Haus zu gelangen? Wir haben uns nicht mehr sicher gefühlt. Alle unsere Überzeugungen – etwa, dass es Menschen da drüben in Gaza gibt, mit denen wir in den Dialog treten können – waren auf einmal in sich zusammengefallen. Ich erinnere mich daran, wie wir uns am Anfang fragten, was wir nun machen sollten. Wir haben uns so ohnmächtig gefühlt und hatten den Drang, etwas zu tun. Natürlich wollten wir nicht Gaza bombardieren, aber wir wollten auch nicht still zu Hause sitzen und die Hamas anbetteln, so etwas bloß nie wieder zu tun.
Wie hat sich die Situation dann entwickelt?
Nach einer Weile kommt man wieder zu politischem Bewusstsein und denkt: Nein, ich bin gegen Krieg und Gewalt, ich bin dagegen, sie alle zu bombardieren. Auch wenn das, was die Hamas getan hat, entsetzlich war. Ich meine, wie kann man eine 85-jährige Frau auf ein Motorrad fesseln und dann mit Stöcken schlagen? Es ist dabei ganz egal, wer sie ist. So ist die Hamas mit der Friedensaktivistin Yocheved Lifshitz umgegangen, die mittlerweile wieder in Israel ist. Sie und ihr Ehemann Oded (84) – der immer noch in Hamas-Gefangenschaft und vielleicht mittlerweile tot ist – waren Teil einer Organisation, die kranke Menschen aus Gaza nach Israel gebracht hat, damit sie in den Krankenhäusern hier behandelt werden können. Was sie und die anderen Geiseln ertragen mussten, ist unvorstellbar. Ich habe nur ein paar Fotos und Videoschnipsel gesehen, die zeigen, was mit ihnen passiert ist, und ich habe nicht weiter nachgeforscht, weil es zu viel für mich war. Aber manchmal konnte man diesen Bildern und Videos gar nicht entgehen, weil sie in den Sozialen Medien unvermittelt aufpoppten – zum Beispiel erinnere ich mich an das Video, in dem der leblose, bis auf die Unterwäsche entkleidete Körper von Shani Louk von Hamas-Terroristen auf einem Pick-up-Wagen durch Gaza gefahren und von umstehenden Menschen bespuckt wurde. Männer, Frauen und Kinder wurden von der Hamas mit Stöcken geschlagen. Wenn man diese Bilder sieht, reagiert man körperlich darauf. Man mag seine politischen Überzeugungen haben, aber die eigenen Gefühle entsprechen diesen nicht mehr. Es ist ein bisschen so, wie wenn man sich, nachdem eine Freundin vergewaltigt wurde, für einen Moment wünscht, dass alle Männer sterben. Dann setzt das Bewusstsein wieder ein und man weiß, dass das nicht die Lösung sein kann.
Wann haben Sie begonnen, sich mit den Geschehnissen künstlerisch auseinanderzusetzen?
Etwa nach einer Woche, vielleicht etwas länger. Als mein Sohn, der 28 und Musiker ist, in die Armee berufen wurde, bin ich zurück ins Atelier gegangen und habe angefangen, zu malen. Ich brauchte ein Ventil für meine Gefühle und musste den Schock irgendwie verarbeiten. Ich dachte: Wer weiß, wohin er nun versetzt wird und was er dort sehen wird? Ich bin nicht nur um seine körperliche Unversehrtheit besorgt, sondern auch um seine Psyche. Als er eingezogen wurde, wusste ich, dass er als Sanitäter Dinge sehen würde, die ihn stark verändern würden – auch wenn er nicht selbst an der Front sein würde. Gegenwärtig ist er erneut eingezogen worden.
Wie hat sich Ihr Malprozess gestaltet? Wie haben Sie sich für Form und Motive sowie für die verwendeten Materialien entschieden?
Normalerweise male ich mit Ölfarben auf Leinwand. Aber diese Bilder, die die Geschehnisse des 7. Oktobers verhandeln, bestehen aus Acrylfarben und Papier. Ich hatte diesen Topf mit schwarzer Acrylfarbe in meinem Atelier stehen, den habe ich genommen und angefangen, mit der Farbe herumzuschmieren. Während der ganzen Zeit, die ich malte, bin ich davon ausgegangen, dass nie jemand diese Bilder sehen wird, dass sie mein Atelier nicht verlassen werden. Ich wollte einfach meine Angst auf das Papier kotzen, sozusagen. Die Ölfarben haben sich dafür zu fein, zu extravagant angefühlt. Ölfarben haben eine lange und reiche Geschichte in der Kunst, und auch ich selbst hatte in der Vergangenheit viel mit ihnen gearbeitet. Mit Acrylfarben dagegen nicht. Das Malen mit Acryl war eher wie Tagebuch schreiben anstatt Gedichte zu ersinnen, die dann publiziert werden. Was die Motive angeht, ging es mir nicht so sehr darum, die Realität abzubilden als darum, meinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Manche der Darstellungen rühren von Fotografien her, die ich gesehen hatte: Einige von ihnen zeigen Menschen, kurz nachdem ihnen mitgeteilt worden war, was die Hamas mit ihren Familienmitgliedern oder Freund*innen gemacht hatte. Diese Bilder haben für mich meine eigenen Gefühle ausgedrückt. Also habe ich angefangen, diese Menschen zu malen.
Die Serie beinhaltet auch zwei Gemälde, auf denen keine Menschen zu sehen sind. Können Sie mir etwas darüber erzählen?
Eins dieser Gemälde zeigt eine Skulptur, die ich einmal im Lager eines Museums gesehen hatte. Ich hatte damals ein Foto von ihr gemacht. Als ich mir das Foto anschaute, nachdem das Massaker stattgefunden hatte, habe ich die Skulptur auf einmal mit einer Geisel assoziiert. Ich glaube, wenn man traumatisiert ist, wird alles, was man sieht, in dieses Trauma übersetzt – auch wenn es ursprünglich damit gar nichts zu tun hatte. Das andere Gemälde zeigt ein niedriges Wellblechdach, daran hängen zwei Objekte, hinter ihnen sieht man nur Dunkelheit. Für mich drückt dieses Motiv etwas Offenes und Angreifbares aus, es vermittelt das Gefühl, verletzbar und vernachlässigt zu sein.
Malen Sie immer noch mit Schwarz?
Es hat eine Weile gedauert, aber etwa vor einem Monat habe ich mir gesagt, dass ich nun damit aufhören muss. Es war zu viel geworden. Aber nun fühlt es sich auch ein bisschen wie Verrat an, nicht mehr mit Schwarz zu malen – denn es sind ja immer noch Geiseln in Gaza, und der Krieg zwischen Israel und der Hamas dauert an. Und nun gibt es auch noch einen anderen Krieg, zwischen Israel und der Hisbollah, und Iran und die jemenitische Huthi-Bewegung schießen Raketen auf Israel ab. Es ist furchtbar. Ich war gerade mit meinem Partner im Urlaub auf Kreta, weil ich mich so gefühlt habe, als müsste ich mal atmen. Ich weiß, dass ich froh sein kann, dass ich überhaupt die Möglichkeit dazu hatte. Der Krieg und die regelmäßigen Demonstrationen haben uns erschöpft. Jeden Samstag haben wir gegen Benjamin Netanjahu und seine rechte Regierung protestiert, wir haben uns Schilder aufgeklebt mit der Zahl der Tage, die die Geiseln jeweils schon in Gefangenschaft waren. Wir haben wöchentlich ein Ende des Kriegs gefordert. Und wir tun es immer noch. Aber es geht immer weiter und wird immer schlimmer. Manchmal fühle ich mich so, als wären die Rechten in diesem Land auch meine Feinde. Sie ruinieren alles, was unsere Eltern hier aufgebaut haben und versuchen, alles, woran ich glaube, zu zerstören.
Haben Sie das Gefühl, dass sich die politischen Einstellungen in Israel, vor allem von Linken, nach dem 7. Oktober verändert haben?
Ja, und nicht unbedingt zum Guten. Aber man kann vielleicht auch nachvollziehen, wie es dazu gekommen ist. Die Hamas sagt es laut und deutlich: »Wir würden das immer wieder tun.« Sie wollen uns Jüdinnen und Juden, uns Israelis wirklich nicht hier. Es ist daher sehr schwierig, noch Vertrauen in einen Friedensprozess zu haben. Trotzdem gibt es immer noch genug Menschen, die nicht aufgeben wollen und an den wöchentlichen Demonstrationen teilnehmen. Wir sind nicht hunderte, sondern tausende. Es gibt aber auch immer mehr Menschen, die das Land verlassen. Leute prüfen derzeit ihre zweiten Staatsbürgerschaften. Es fühlt sich so an, als sei überhaupt nicht sicher, ob es Israel in der Zukunft noch geben wird.
Ein Freund von mir ist ebenfalls Künstler aus Israel und lebt nun schon seit einer Weile in Deutschland. Vor ein paar Jahren hat er einen Antrag auf die deutsche Staatsbürgerschaft gestellt, und sie wurde ihm bewilligt, da seine rumänische Großmutter von den Nazis verfolgt wurde. Nun ist er also auch Deutscher.
Diese Biografien – jüdische Menschen, die aus Israel nach Deutschland einwandern – fühlen sich an wie ein Treppenwitz der Geschichte. Zumindest, wenn es aus der Motivation geschieht, sich zu schützen. Aber abgesehen von der Sicherheitslage kann es, wenn man Künstler*in aus Israel ist, auch aus anderen Gründen hilfreich sein, eine zweite Staatsbürgerschaft zu besitzen.
Warum?
Vor ein paar Jahren – noch bevor der Krieg begann – wurde es für israelische Künstler*innen auf einmal immer schwieriger, international zu arbeiten, was mit Kampagnen wie BDS (Boycott Disinvestment Sanctions) zusammenhängt, die einen umfassenden Boykott des kulturellen Austauschs mit Israel fordern. Nach dem 7. Oktober wurde einem plötzlich alles – Aufenthaltsstipendien, Professuren, Kurator*innestellen, Teilnahme an Ausstellungen – verwehrt, wenn man aus Israel kam. Es fühlt sich so falsch an. Ich bin Mitglied einer Facebook-Gruppe von israelischen Künstler*innen, und dort schrieb jemand einmal: »Lasst mich wissen, wenn es überhaupt jemanden gibt, der*die irgendwo ein Aufenthaltsstipendium erhalten hat« – und es gab wirklich niemanden. Auf einmal waren alle Türen verschlossen. Nachdem der Krieg begonnen hatte, formierten sich Gruppen wie Art Not Genocide Alliance – ein internationaler Zusammenschluss von Künstler*innen, die forderten, dass Israel von der Venedig-Biennale ausgeschlossen werde. Die Ideologie dahinter ist oft eher borniert in ihrer Radikalität. Es wird nicht differenziert. Alles an Israel ist schlecht, lautet die Botschaft, alles ist falsch – ihr Slogan »From the river to the sea« bedeutet, dass alle Jüdinnen und Juden dort ausgelöscht werden sollen. Es wirkt so flach. Denn, wissen Sie, in der Realität, in der Politik, ist nicht alles schwarz-weiß, nie. Nicht alle Araber*innen sind schuld daran, was am 7. Oktober im Süden von Israel geschehen ist, und andersherum sind auch nicht alle Israelis an dem Krieg schuld, den unsere rechte Regierung gegen die Hamas führt.
Ich erwarte von linksorientierten Menschen, dass sie intelligenter sind und gründlicher über die Ereignisse nachdenken. Wenn es etwas bringen würde, Israelis zu boykottieren, um die Regierung hier umzustimmen, wäre ich vielleicht sogar dafür, aber der Boykott von hiesigen Künstler*innen und Akademiker*innen ist für die Regierung Netanjahus leider irrelevant.
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