Eigentlich wollten wir keine Kiemen

Unsere Kolumnistin geht an der Stadtgrenze in Marzahn einem immer wiederkehrenden Traum nach.

Kommt ihr gleich das Meer? Unsere Kolumnistin geht an der Stadtgrenze in Marzahn einem immer wiederkehrenden Traum nach.
Kommt ihr gleich das Meer? Unsere Kolumnistin geht an der Stadtgrenze in Marzahn einem immer wiederkehrenden Traum nach.

Hinter den Häusern beginnt der Strand. Ich steige aus der Straßenbahn, gehe über eine Straße und einen Hang hinab, der schon aus Sand besteht. Ich rutsche und stolpere, mein Herz schlägt schneller. Es rauscht – und da, hinter ein paar Buden und Bäumen, liegt es.

»Das Meer, ein dunkel klimperndes Grün, bewegt sich in diesem Moment gemach«, denke ich einen Satz aus dem wundersamen Roman von Florian Weber, in dem ein Clown nebst Klavier und einem Lama im Meer treibt. Das Meer beginnt auch am Saum meiner Stadt; ich gehe schneller, beginne zu laufen – und wache auf. Wie immer. Diesen Traum habe ich seit Jahrzehnten und erwache regelmäßig, bevor ich das Wasser erreiche. Mal ist die Straßenbahn gelb und quietscht, mal rot und leise. Mal fahren wir über Schluchten, mal durch Berge bis zum Meer, immer höre ich es irgendwann rauschen.

Über Wasser

Anne Hahn ist Autorin von Romanen und Sachbüchern und schwimmt für »nd« durch die Gewässer der Welt.

Es muss eine Straßenbahnlinie in meiner Stadt geben, die zum Rand, an den Strand führt. Ich mache mich auf den Weg und finde eine Tram, die vom Berliner Hauptbahnhof nach Ahrensfelde/Stadtgrenze fährt. Gelb, leise und ebenerdig rollt sie durch Häuserschluchten, über einen S-Bahn-Ring, eine Autobahn. An einem Dorfanger steige ich aus, laufe über Kopfsteinpflaster an herbstlaubgeschmückten Gehöften vorbei in ein Hochhäusermeer, das Achtecke bildet. Promenade, Skulpturen, Brunnen, kein Strand.

Ich betrete ein lockendes Forum aus Glas und weißen Säulen, drin eine Frauensporthalle, eine Bibliothek und der Charme einer Reha-Klinik. Im Lichthof leuchtet der Schriftzug »FREIHEIT«, wird durch das sich drehende »H« zu »FREIZEIT«. Ein Rentner studiert ein Plakat, das für einen Liederabend mit Barbara Schnitzler wirbt: »Ein Jegliches hat seine Zeit«. Ich ziehe einen Plastikchip am Kassenautomaten, passiere eine Kegelbahn und lande in einem 25-Meter-Becken, das von Greisen belagert ist. Auch auf den geleinten Bahnen schwimmen jeweils zwei Herren und Damen gemächlich im Kreis. Ich klettere ins Becken, tauche eine halbe Bahn und schwimme eine Weile Slalom, mal bei den dümpelnden Männern, dann bei den Frauen.

Ein tätowierter Freizeitschwimmer klärt das mit den verträumten Aufsehern, ein Schild mit der Aufschrift »Sportlerbahn« wird herbeigeschafft, die Damen der Bahn verwiesen. Los geht’s, die blau bemalten Schultern tauchen mir gegenüber auf und ab. Wir steigern uns gemeinsam, schießen im Gleichklang über die Sportlerbahn. Vier Bahnen Brust, dann Rücken, dann Freistil. Und wieder von vorn.

»Wir waren Meeressäuger, Wale, Delfine, die Arme in Vorderflossen zurückverwandelt, die Beine zu einer Schwanzflosse verschmolzen«, fühle ich mit John von Düffel aus seinem Band »Wassererzählungen« und gleite glücklich ins Ausschwimmen: Rücken, Beine, Brust. Das entspannt den Krampf im rechten Fuß. Die letzten zehn Meter lasse ich mich treiben und lande beim Kollegen am Startblock. Der inspiziert seine Uhr und meint: »Zu zweit zieht das mehr – ich war heute zehn Sekunden schneller.« Ich lächle versonnen und sage zu meiner eigenen Verblüffung mit John von Düffels Stimme: »Schwimmen vertreibt die bösen Geister.«

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