Die Geschichte erfinden

Parmesan, Panettone und Aceto balsamico – nichts ist Alberto Grandi heilig, wenn er die Mythen der italienischen Küche untersucht

  • Roland Zschächner
  • Lesedauer: 6 Min.
Ist das vielleicht italienisches Traditionsgericht? Nutella-Pizza in Rom.
Ist das vielleicht italienisches Traditionsgericht? Nutella-Pizza in Rom.

Urlaub ist Italien. Zumindest für viele Deutsche. Und Italien ist Pizza – auch wieder für viele Deutsche. Mittelmeer, Pizza und Eis sind das Sommerglück einer bundesrepublikanischen Kindheit. Doch hinter jedem Glück lauert Vergänglichkeit. Da ist etwa die EU, die zur Durchsetzung des globalen Freihandels Italiens Strände dem europäischen Markt zum Fraß vorwerfen will. Ein Kulturgut ginge verloren, wenn zukünftig Schweden oder Deutsche an der Adria Sonnenliegen und Schirme vermieten könnten, schwarzmalen die bisherigen Betreiber, die diesen Sommer sogar für ihr Anliegen in den Streik traten. Schließlich seien sie es, die alteingesessenen Familienbetriebe, die ihren Kunden Gastfreundschaft inklusive einer ordentlichen Portion Spaghetti alle Vongole servierten.

Nudeln mit Muscheln – ein einfaches Sommergericht. Wer das nicht zu schätzen weiß, der kann gleich Urlaub an der Ostsee machen. Wenn es um Essen geht, wird in Italien nicht gescherzt. Das liegt daran, dass das Land einen Teil seiner Identität – einen nicht unwesentlichen könnte man meinen – aus der Cucina Italiana schöpft. Pizza und Spaghetti findet man schließlich überall auf der Welt; ein unbestreitbarer Erfolg, der ja wohl die Einzigartigkeit und Qualität der italienischen Küche bezeugt. Und wohlgemerkt: Sie ist mehr als nur gebackener und gekochter Teig mit Tomatensoße. Denn die eigentliche Vielfalt entsteht erst durch die etlichen regionalen Spezialitäten.

Was nun so eine Spezialität ist, dafür gibt es ein schier unübersichtliches Geflecht an Herkunftsbezeichnungen. Ein regelrechter Wildwuchs ist in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten entstanden, beklagt der an der Universität Parma lehrende Wirtschaftshistoriker Alberto Grandi. Er ist in Italien zu einer gewissen Bekanntheit gekommen, weil er nicht nur die Herkunftsbezeichnungen hinterfragt hat, sondern gleich die damit verbundenen Traditionen der sich als ursprünglich gebenden Produkte. Ein heikles Unterfangen für Grandi, der bereits Drohungen von selbsternannten Hütern der Nation erhalten hat.

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Grandi lässt sich nicht von seiner Mission abbringen und verbreitet seine Thesen über seinen Podcast »Denominazione di origine inventata« (Erfundene Herkunftsbezeichnungen) sowie in dem gleichnamigen Buch, das 2018 in Italien erschien und nun auf Deutsch unter dem Titel »Mythos Nationalgericht« vorliegt. Der italienische Name ist eine Verballhornung des älteren Schutzsiegels DOC (kontrollierte Herkunftsbezeichnung) beziehungsweise des neueren DOP (geschützte Herkunftsbezeichnung).

Für Grandi ist das Wirrwarr an Siegeln, die von der EU, italienischen Behörden oder privaten Initiativen wie der Slow-Food-Bewegung vergeben werden, nicht unbedingt ein Zeichen von Qualität, sondern vielmehr ein zur Marotte verkommenes Instrument des Marketings. Anhand von rund einem Dutzend Beispielen zeigt der Historiker auf, wie Produzenten, Schutzkonsortien sowie lokale Politiker regionale Spezialitäten kreieren und ihnen das auch noch bereitwillig von den Konsumenten abgenommen wird.

Dabei reicht das von Grandi vorgestellte Menü von Pasta, einer gar nicht so italienischen Tomatensorte über Essig, einen Weihnachtskuchen und Schokolade bis hin zu einer ganz besonderen Focaccia, die in Deutschland nirgendwo zu kaufen sein dürfte. Wohlgemerkt, Grandi beurteilt nicht den Geschmack der Produkte, sondern zieht deren vermeintlich weit in die Vergangenheit zurückgehende Herkunft, die vor allem ein Verkaufstrick ist, in Zweifel – zuweilen macht er sich darüber lustig.

Der Gedanke, dass Geschichte zu einem Zweck erfunden wird, ist nicht neu und auch nicht von Grandi. Er beruft sich auf die Idee der »Invention of Tradition« des marxistischen Sozialhistorikers Eric Hobsbawm aus den 1980er Jahren. Damit beschreibt er, wie scheinbar uralte Traditionen gar nicht so alt sind, sondern konstruiert und anschließend zum Teil einer nationalen Geschichte wurden. Mit diesen ausgedachten Traditionen werden Individuen, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben, in eine Gemeinschaft mit lang zurückreichender Geschichte gesteckt.

Vergangenes – möge es nun stimmen oder auch nicht – wird so zum vermeintlichen Ausgangspunkt einer geschichtlichen Erzählung, die ihren Faden bis in die Gegenwart spinnt. Hobsbawm nennt als Beispiel die Schottenröcke, Grandi schaut auf die Teller und findet unter anderem den Lardo di Colonnata, ein in Marmorbecken eingelegter Speck aus der Gegend von Carrara. »Letztlich ist alles, was im weitesten Sinne typisch für diesen speziellen Winkel der Toskana ist, irgendwie in die Lardo-Geschichte eingeflossen«, beschreibt der Wirtschaftshistoriker die historische Arbeit der Speckproduzenten.

In der modernen toskanischen Erzählung haben Sklaven im Alten Rom, Michelangelo und Anarchisten im 19. Jahrhundert ihren Platz in der Speckgeschichte. Doch da gibt es ein Problem: Es gibt keine Belege, die das bezeugen. Und so verkürzt sich die Geschichte des Lardo di Colonnata laut Grandi und beginnt erst in den 1990er Jahren. Damals kam »ein Grüppchen von Produzenten und Gastronomen aus der Provinz Carrara auf die Idee, ihre Gegend auch mittels der Kulinarik zu bewerben«. Speck gab es dort reichlich und auch gewiefte Marketingleute. Letztere machten Ersteren zu einer Marke, schließlich »brauchte man Wiedererkennbarkeit und Ortsgebundenheit, also etwas, was dort und nur dort herzustellen war«, fasst Grandi die Methode der gefundenen gastronomischen Tradition zusammen. Dabei steht der Lardo di Colonnata stellvertretend für unzählige weitere vermeintlich uralte regionaltypische Produkte.

Doch warum das alles? Grandi gibt eine einem Wirtschaftshistoriker angemessene Antwort: In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg hat Italien eine beispiellose Entwicklung durchgemacht, inklusive einer kulturellen Erneuerung. In den 70er Jahren folgte eine tiefe Krise. Ökonomisch waren die fetten Jahre zumindest für die Arbeiter vorbei, die Industrialisierung war an ihre Grenzen geraten, große Firmen strukturierten um, gleichzeitig wurde die industrielle Produktion nicht mehr mit Fortschritt und Wohlstand gleichgesetzt, sondern mit Umweltproblemen und Vermüllung. Das Ende des Zukunftsversprechens war der Beginn einer Identitätskrise, die dazu führte, dass man sich in Italien auf die Suche nach dem ursprünglichen Leben begab.

Da lag es nahe, die Identität in den Kochtöpfen und auf den Tellern zu suchen. Dort wurde man auch – mit ein wenig Nachhelfen – fündig. So einfach sei es aber nicht, moniert Grandi: »Will man also eine Geschichte der italienischen Regionalküche schreiben, ist man bedauerlicherweise gezwungen einzuräumen, dass zumindest vom Beginn des 18. bis zu den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts nur zwei Küchen existierten: Die mit Mais als Grundnahrungsmittel und die ohne Mais – so wie Clint Eastwood laut Sergio Leone nur zwei Gesichtsausdrücke besitzt: einen mit Hut und einen ohne.«

Dort, wo früher Armut herrschte, verstand man sich nun darauf, neue Traditionen zu ersinnen. Das hatte den Vorteil, lokale Produkte besser zu verkaufen und sich als touristisch interessante Gegend zu präsentieren. Zurückstecken musste dabei, wie Grandi bedauert, die wirtschaftliche Entwicklung des Landes, das in kleine wirtschaftliche Einheiten zerfällt. Es fehlte an Industriepolitik, die diesen Namen verdiene, so der Wirtschaftshistoriker. Und so liest sich »Mythos Nationalgericht« zuweilen wie ein Appell an die italienische Politik, endlich mal die Ökonomie auf Vordermann zu bringen. Bei Weitem unterhaltsamer, mit Witz geschrieben und immer wieder mit literarischen Querverweisen gespickt, wird es, wenn Grandi sich den Speisen widmet. Dann wird aus seinen Betrachtungen des italienischen Essens eine moderne Kulturgeschichte.

Alberto Grandi: »Mythos Nationalgericht. Die erfundenen Traditionen der italienischen Küche. A. d.  Ital. v. Andrea Kunstmann. HarperCollins, 256 S., geb., 22 €.

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