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Ernährungsarmut: Hunger schafft Profite
Ernährungsarmut ist in der deutschen Forschung immer noch ein blinder Fleck. International stockt der Kampf gegen den Hunger
An Donnerstagen herrscht vormittags immer reges Treiben in der Zwingli-Kirche in Berlin-Friedrichshain. Zwischen den Holzbänken stehen Kleiderständer voller Jacken, Schals und Pullover, im Seitenschiff der Kirche sortieren mehrere Personen in roten T-Shirts Obst und Gemüse. Etwas mehr als zwei Jahre ist es inzwischen her, dass die Nachbargemeinde um Entlastung ihrer Ausgabestelle »Laib und Seele«, einer Aktion der Berliner Tafel und Kirchen, angefragt hatte. Damals hätte sich Gemeindepfleger Burkhard Batze nicht vorstellen können, dass es in seinem Kiez überhaupt Bedarf dafür gebe, erzählt er. Inzwischen erhalten ungefähr 200 bis 250 Personen aus 150 Haushalten einmal die Woche zusätzliche Nahrungsmittel in der Kirche.
Diesen Frühling schlugen die deutschen Tafeln Alarm, sie seien überlastet. 36 Prozent von ihnen hätten in den vergangenen Jahren eine Zunahme an Bedürftigen um etwa die Hälfte erlebt, 22 Prozent eine Verdopplung und 16 Prozent mehr als eine Verdopplung. In Berlin stieg die Anzahl der Tafel-Besucher*innen um 100 Prozent. Inzwischen versorgt die Hilfsorganisation zwei Millionen Menschen mit Lebensmitteln, die anderenfalls entsorgt werden würden. Im September betonte Tafel-Geschäftsführerin Sirkka Jendis in einem NDR-Interview, es könne nicht sein, dass so viele auf ehrenamtliche Unterstützung angewiesen seien, und forderte eine »soziale Zeitenwende«.
Von Ernährungsarmut betroffen zu sein bedeutet, sich aus finanziellen Gründen nicht gesund ernähren zu können. Bereits 2022 gehörten dazu in Deutschland laut der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) 3,5 Prozent der Bevölkerung. Von der Bundesrepublik selbst werden keine verlässlichen Statistiken zum Thema Ernährungsarmut herausgegeben.
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Die FAO veranstaltet diese Woche den Welternährungsgipfel in Rom. Dort sollen Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft Lösungen zur Lebensmittelsicherung diskutieren. Denn global sind die Zahlen noch erschreckender, wie das Entwicklungshilfenetzwerk Misereor aufzeigt. Zwei von fünf Menschen weltweit können sich keine gesunde Ernährung leisten. »Ein Grund, warum ›Echtes Essen‹ gerade für die Ärmsten nicht erschwinglich ist, liegt in der Dysfunktion und Instabilität des globalen Ernährungssystems – vom Acker bis zum Teller«, schlussfolgert Misereor in einem aktuellen Bericht. Die vorherrschenden Märkte würden häufig arme Bevölkerungsgruppen benachteiligen, sowohl auf der Seite der Produzent*innen als auch auf der Seite der Konsument*innen.
Die »globale Armutslücke« belief sich im jüngsten Berechnungszeitraum 2022 auf 2,59 Billionen US-Dollar und blieb im Vergleich zum Vorjahr auf nahezu konstant hohem Niveau. Die Armutslücke ist die Summe, die laut Miseror knapp 3,09 Milliarden Menschen für eine gesunde Ernährung fehlt. Berechnet wird sie anhand der Kosten der gesunden Ernährung in einem Land, unter Berücksichtigung der jeweiligen Demografie sowie der Kosten anderer essenzieller Bedürfnisse. Menschen in Mosambik und Madagaskar seien am stärksten davon betroffen. Ihnen fehlten durchschnittlich 68 beziehungsweise 67 Prozent des notwendigen Einkommens, um sich gesund ernähren zu können.
»Werden Märkte nicht reguliert, entlohnen sie wichtige Beiträge zur Gesundheit, Sicherheit und Umweltverträglichkeit von Nahrungsmitteln nicht.«
Misereor
»Werden Märkte nicht reguliert, entlohnen sie wichtige Beiträge zur Gesundheit, Sicherheit und Umweltverträglichkeit von Nahrungsmitteln nicht«, schreibt Misereor. Denn so erzielten sie höhere Gewinne. Unternehmen wie Supermärkte und Großhändler hätten zudem inzwischen einen übermäßigen Einfluss auf Preise und Rahmenbedingungen gegenüber Kleinproduzent*innen und Konsument*innen. Beispiele für demokratische lokale Märkte fänden sich in Uganda, Indien oder Brasilien. Daran orientiert fordert Misereor den Ausbau sozialer Sicherungssysteme, eine stärkere Regulierung des internationalen Lebensmittelhandels sowie eine Reduktion der Marktmacht großer Unternehmen.
Zu einem ähnlich ernüchternden Ergebnis wie Misereor kommt der vergangene Woche von der Welthungerhilfe präsentierte Welthungerbericht (WHI). Er gibt Auskunft über die Ausprägung verschiedener Hungerindikatoren wie Unterernährung, Wachstumsverzögerung bei Kindern, Auszehrung und Kindersterblichkeit. Darauf basierend bewertet die Welthungerhilfe die jeweilige Lage eines Landes. Im Tschad, in Madagaskar, in Burundi, im Jemen, in Somalia und im Südsudan sei die Hungerlage als sehr ernst eingestuft worden, in 34 weiteren Ländern sei sie ernst.
Insgesamt kommt die Welthungerhilfe zum Ergebnis: »Wir sind weit davon entfernt, das für 2030 angestrebte Ziel ›Zero Hunger‹ zu erreichen.« »Zero Hunger« bezieht sich auf das Vorhaben der Vereinten Nationen, den globalen Hunger in den nächsten sechs Jahren abzuschaffen. Lang habe es Fortschritte gegeben, inzwischen würde die Situation aber stagnieren, schreibt die Organisation. Zwischen 2000 und 2016 sank der globale WHI-Wert um etwa ein Drittel. Heute haben weltweit 733 Millionen Menschen – deutlich mehr als vor zehn Jahren – keinen Zugang zu ausreichend Kalorien.
Der Klimawandel und bewaffnete Konflikte würden zu hohen Lebensmittelpreisen führen, die vor allem vulnerable Menschen und Länder gefährden. Besonders stark davon betroffen seien Frauen. Die Welthungerhilfe fordert daher, die völkerrechtliche Rechenschaftspflicht und Durchsetzbarkeit des Rechts auf angemessene Nahrung zu stärken.
Zurück in der Zwingli-Kirche in Berlin-Friedrichshain haben bereits eine Stunde vor Beginn der Essensausgabe um die 40 Personen auf Holzbänken im Vorraum der Kirche Platz genommen. In der Hand halten sie ihre Berechtigungsscheine. In Deutschland ist Ernährungsarmut immer noch ein blinder Fleck in der Forschung, wie auf Fachtagungen wiederholt bemängelt wird. Auch die Regelsätze der Sozialhilfe entsprechen nicht den Anforderungen gesunder Ernährung. Indes geraten Sozialorganisationen immer stärker unter Druck. Ein Lösungsansatz, den sie deswegen fordern, wäre eine engere Vernetzung von Ernährungs- und Sozialpolitik.
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