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Wer auch nur einen Menschen rettet …

Barbara Pfeifer und Lou Marin erinnern an Beispiele gewaltfreien Widerstands in der NS-Zeit

Denkmal für den Frauenprotest in der Berliner Rosenstraße Ende Februar/Anfang März 1943
Denkmal für den Frauenprotest in der Berliner Rosenstraße Ende Februar/Anfang März 1943

Es war eine der spektakulärsten und erst spät gewürdigten Aktionen der Rettung von Juden vor mörderischen deutschen Antisemiten. Das Foto auf dem Buchcover verweist bereits darauf: die Rettung der dänischen Juden in fast letzter Minute in Fischerbooten über die hohe See nach Schweden. Anfang 1943 leben an die 8000 Juden und Jüdinnen in dem kleinen skandinavischen Land noch fast unbehelligt. Zu den alteingesessen Familien sind Flüchtlinge aus Polen und Deutschland hinzugekommen. »Sie gehen ihrer Arbeit nach, einige von ihnen auch in die Synagoge, und häufig wissen die Nachbar*innen nicht, dass sie jüdischer Herkunft sind – es ist einfach nicht wichtig«, schreibt Barbara Pfeifer. Doch dann ändert sich die Lage dramatisch.

Das Reichssicherheitshauptamt (RSHA) in Berlin ordnet an, dass alle »Volljuden« und »Halbjuden« in die Vernichtungslager ins deutsch okkupierte Polen zu deportieren seien. »In der jüdischen Gemeinde bricht nun das Chaos aus.« Obgleich es auch in Dänemark Faschisten gibt, kommt es zu einzigartigen Solidaritätsbekundungen. Am Sonntag, dem 3. Oktober 1943, wird in allen Kirchen des Landes ein Hirtenbrief des Bischofs Hans Fuglsang-Damgaard verlesen. Ein Journalist der konservativen Zeitung »Politikken« berichtet über dessen Inhalt: »Man dürfe nicht vergessen, dass Christus aus dem Land der Juden stammte und die Grundlage des Christentums das Alte Testament sei. Man müsse Gott und nicht den Menschen gehorchen. Außerdem verletze die Verfolgung von Juden das dänische Rechtsempfinden. (…) Es war ein historischer Moment.«

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In der Folge setzten sich einfache Menschen für die Bedrängten ein, ihr eigenes Leben riskierend. Insgesamt konnten 7742 Juden und Jüdinnen, von denen 1376 nicht die dänische Staatsangehörigkeit besaßen, über die Ostsee vor den Häschern in Sicherheit gebracht werden. Dänemark ist das einzige Land der Welt, dessen Widerstand gegen die Nazis in der zentralen israelischen Gedenkstätte Yad Vashem geehrt wird. Von anderen Staaten sind dort ausschließlich Einzelpersonen als »Gerechte unter den Völkern« gewürdigt.

Barbara Pfeifer verschweigt nicht, dass sich die dänischen Fischer bezahlen ließen, was die mitmenschliche Tat als solche nicht diskreditiert. Ein Oskar Schindler hat letztlich von der Zwangsarbeit der von ihm geretteten Juden und Jüdinnen profitiert, die ihm natürlich unendlich dankbar waren. In vielen Fällen waren die dänischen Fischer, insbesondere bei völlig mittellosen Menschen, bereit, die Überfahrt kostenlos zu bewerkstelligen. Die Zahl der dänischen Juden, die dem Völkermord der Nazis zum Opfer fielen, nimmt sich im Vergleich zu anderen Staaten gering aus: Etwa 50 wurden in Konzentrationslagern ermordet, noch einmal so viel starben auf andere Weise, unter anderem durch Suizid in verzweifelter Lage.

Die Rettung der dänischen Juden ist ein Beispiel zivilen Widerstandes gegen Barbarei. Vier Fälle stellen Barbara Pfeifer und Lou Marin in dem von ihnen herausgegebenen Band vor. Hierzulande wenig bis gar nicht bekannt dürfte die Rettung der bulgarischen Juden sein. Lou Marin setzt sich zunächst auseinander mit der »völlig überhöhten und unzutreffenden Erzählung von Bulgarien als ›Land ohne Antisemitismus‹« und »dem ebenso falschen Mythos von der ›kollektiven Rettung der bulgarischen Juden‹«, die sowohl im sozialistischen Bulgarien als auch von der bürgerlichen Republik nach 1989 gepflegt wurden. Diesem Irrtum unterlag sogar Hannah Arendt.

Das schwarze Jahr ist auch hier 1943. Das autoritär-faschistische Bulgarien unter Zar Boris III. hatte ein »Gesetz zum Schutze der Nation« ähnlich den Nürnberger Gesetzen verabschiedet, »das die jüdische Bevölkerung bis hin zu Enteignungen entrechtete und zum Tragen des Judensterns verpflichtete«. Im März 1943 sollte im Rahmen der nazistischen »Endlösung« die gesamte jüdische Bevölkerung zur Zwangsarbeit nach Deutschland deportiert werden. Was auch hier in buchstäblich letzter Minute verhindert wurde. Und so kam es, »dass nach 1945 genauso viele Juden und Jüdinnen in Bulgarien lebten wie 1939«. Wie gelang dies? Auch hier trat erst mal ein Einzelner in Erscheinung. Dimitar Peschew, Vizepräsident des bulgarischen Parlaments, verfasste am 17. März 1943 eine Erklärung, die er von 42 Abgeordneten unterzeichnen ließ. »Die Erklärung verurteilte die antijüdische Politik freundlich, aber deutlich.«

Dazu gesellte sich der Protest hoher Würdenträger der orthodoxen Kirche. Antisemitische Verfolgung und Drangsalierung prangerten insbesondere Stepan, Metropolit von Sofia, sowie Kyrill, Metropolit von Plovdiv, an. Schoah-Überlebender Angel Wagenstein betont aber auch: »Unbedingt hinzurechnen muss man den umfassenden Widerstand und die praktische Solidarität der aktivsten Schichten der Bevölkerung, insbesondere der intellektuellen Elite, die Vereinigungen der Schriftsteller, der Ärzte, der Juristen. In diesem Kontext wurde in perfekter Weise die große Protestkundgebung in Sofia vom 14. Mai 1943 abgehalten, ein Ereignis, das den Zaren und seine Regierung zutiefst beeindruckt hat.« Die Deportationen wurden aufgehoben.

Bekannt und in jüngster Zeit vielfach gewürdigt ist der unerschrockene Protest der Frauen in der Berliner Rosenstraße gegen die geplante Deportation ihrer jüdischen Männer. An sie erinnert in diesem Buch ein Aufsatz von William Wright. Am 27. Februar 1943 hatten SS und Gestapo begonnen, jüdische Männer, die in »Mischehen« lebten, zu verhaften, vornehmlich an ihrem Zwangsarbeitsplatz in Betrieben, deshalb »Fabrikaktion« genannt. Schon am Abend dieses Tages versammelten sich die ersten Frauen vor dem Gebäude der ehemaligen Behörde für Wohlfahrt und Jugendfürsorge der Jüdischen Gemeinde nahe dem Alexanderplatz, das als ein Sammellager diente. In den nächsten Tagen wuchs die Zahl der protestierenden Frauen rasant. »Die Nazis brachen die Deportationen ab, gaben dem unbewaffneten Widerstand nach, um einen befürchteten Flächenbrand und eine Ausweitung des Widerstands zu vermeiden.« Etwa 1700 Juden und Jüdinnen konnten so vor der Deportation nach Auschwitz gerettet werden.

Abschließend berichtet Lou Marin über die französische, hugenottisch geprägte Gemeinde Chambon-sur-Lignon, deren 5000 Einwohner unter Leitung der Pastoren André Trocmé und Édouard Theis an die 5000 Juden retteten. Albert Camus schrieb später darüber, dass auch er Pariser Juden und Jüdinnen ins Rettungsnetz von Chambon brachte. Der Schriftsteller, der kurz vor dem Einmarsch der Wehrmacht in Paris 1940 nach Lyon geflüchtet war, strickte selbst mit Freunden ein Fluchtnetz, von Marseille über Algier und Oran nach Casablanca. In seinem Roman »Die Pest«, begonnen nach der Schlacht um Stalingrad 1943, doch erst vier Jahre später erschienen, sind die großen Themen Kollaboration und Widerstand grandios bearbeitet.

Lou Marin diskutiert auch die heftigen Diskussionen zwischen Camus, dem vehementen Verneiner jeglicher Gewalt, und Jean-Paul Sartre, der Gewalt in bestimmten Situationen als legitim ansah, als ein Recht der Unterdrückten gegen ihre Unterdrücker gar pries. Des Letzteren Ausspruch »Man bleibt entweder terrorisiert oder wird selbst terroristisch« nennt der Autor und Verleger »schrecklich«, gerade auch in Hinblick auf die islamistischen Terroranschläge in jüngster Zeit sowie insbesondere des Massakers der Hamas am 7. Oktober 2023. »Für Camus waren solche Äußerungen purer Nihilismus«, schreibt der ausgewiesene Camus-Experte Lou Marin und zitiert sein Idol: »Wenn ein einziger Mensch tatsächlich getötet wird, verliert der Revoltierende auf gewisse Weise das Recht, von der Gemeinschaft der Menschen zu sprechen, aus der er indes seine Rechtfertigung ableitete.«

Ein kleiner, aber gewichtiger Band von Lou Marin und Barbara Pfeifer. Er macht in einer gewalttätigen, hasserfüllten und kriegerischen Gegenwart auf erfolgreiche gewaltfreie Aktionen zivilen Ungehorsams aufmerksam. Es lohnt das Wagnis, mögen die Menschenverachter und Mörder noch so übermächtig erscheinen. Denn, wie eine (auf der Medaille für Gerechte unter den Völkern eingeprägte) alte jüdische Weisheit weiß: »Wer auch nur ein Leben rettet, rettet die ganze Welt.« 

Lou Marin/Barbara Pfeifer (Hg.): Menschen retten! Wie ziviler Widerstand jüdische
NS-Verfolgte vor der Deportation bewahrte. Graswurzelrevolution, 87 S., br., 12,90 €.

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