Blinder Fleck der Vereinigungsbilanz

Die Reparationsleistungen wurden bei der Bewertung der DDR-Wirtschaft vor 35 Jahren nie berücksichtigt, kritisiert unser Autor

  • Ralf Fischer
  • Lesedauer: 4 Min.
Als großer Gönner der armen Brüder und Schwestern im Osten gerierte sich 1990 Kanzler Helmut Kohl (rechts im Bild als Räuchermännel), dabei gründete sich der Wohlstand der alten BRD weniger auf größerer Tüchtigkeit ihrer Bewohner, sondern auf massiver Wirtschaftsförderung der Alliierten samt Erlass von Reparationsleistungen.
Als großer Gönner der armen Brüder und Schwestern im Osten gerierte sich 1990 Kanzler Helmut Kohl (rechts im Bild als Räuchermännel), dabei gründete sich der Wohlstand der alten BRD weniger auf größerer Tüchtigkeit ihrer Bewohner, sondern auf massiver Wirtschaftsförderung der Alliierten samt Erlass von Reparationsleistungen.

Die Bewertung der ökonomischen Leistung eines Staates und seiner Bewohner ist in kapitalistischen Verhältnissen der wichtigste Maßstab im globalen Konkurrenzkampf. In Deutschland wird dabei noch einmal extra in Ost und West unterschieden. Allein deshalb, weil die Bewohner der westlichen Gefilde jenen in der ostdeutschen Tiefebene immer wieder ihre Großzügigkeit vor Augen führen wollen. Mal großkotzig, mal etwas subtiler soll damit den 1990 neu hinzugekommenen Staatsbürgern gezeigt werden, dass zu Tugenden erhobene Eigenschaften wie Fleiß und Produktivität Merkmale des überlegenen Systems sind. Der Kapitalismus in seinem Lauf – selbstverständlich angetrieben vom Eifer der westdeutschen Arbeitnehmer – hatte dank seiner ökonomischen Power den Wettlauf der Geschichte gewonnen.

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In dieser Erzählung fehlt immer die Tatsache, dass die westlichen Alliierten gegegenüber der Bundesrepublik größtenteils auf Reparationsleistungen wegen der von Deutschland im Zweiten Weltkrieg verursachten Zerstörungen in den Ländern Europas verzichteten. Sie setzten sogar ein umfassendes Wiederaufbauprogramm für ihren ehemaligen Kriegsgegner auf.

»In den westlichen Besatzungszonen wurden die Reparationen zu Beginn der 1950er Jahre eingeschränkt, während von der DDR bis zum Ende der 1950er Jahre an die Sowjetunion Reparationen gezahlt werden mussten«, schreibt die Bundeszentrale für politische Bildung (BpB). Nimmt man alle westdeutschen Reparationsleistungen zusammen, käme man einem Beitrag der »Wirtschaftswoche« zufolge »für öffentliche Leistungen, individuelle Wiedergutmachung, Schuldentilgung und Besatzungskosten auf eine Summe von etwa 16,6 Milliarden US-Dollar«. Dies sei »eine ungewöhnlich hohe Belastung«, die »nur von den Leistungen, die die DDR an die Sowjetunion erbringen musste, deutlich übertroffen wurde«.

In Ostdeutschland wurden in den 1950er Jahren rund ein Drittel der Betriebsanlagen, Maschinen und Eisenbahnschienen demontiert, Waren aus der industriellen sowie landwirtschaftlichen Produktion entnommen und zehntausende Arbeitskräfte in die UdSSR verschickt. Darüber hinaus wurden in der DDR sowjetische Aktiengesellschaften wie die Wismut AG für den Uranbergbau gegründet, Patente übernommen, und sowjetische Handelsgesellschaften hatten Zugriff auf die Ressourcen.

Nach einer Anfang 1990 von dem Bremer Historiker Arno Peters vorgelegten Berechnung schuldete die BRD wegen dieses Ungleichgewichts der DDR nominell 72 Milliarden Deutsche Mark. Unter Berücksichtigung von Inflationsausgleich und Zinsen seit 1953 verzehnfacht sich die Summe laut Peters auf 727 Milliarden D-Mark. Gemeinsam mit sechs weiteren Professoren und fünf Mitgliedern des Bremer Senats forderte Peters damals in einem »Bremer Initiative« genannten Papier Zahlungen an den Osten in dieser Höhe – und mehr als das: Weil die BRD ihre Wirtschaft auf Kosten der DDR-Wirtschaft entwickelt habe, solle sie der »Reparations-Ausgleichs-Zahlung« einen »angemessenen Betrag zur Kompensation der Geldentwertung« hinzufügen.

Diese Rechnung wurde selbstverständlich nie beglichen. Sie spielt auch keinerlei Rolle, wenn von westdeutscher Seite mal wieder beklagt wird, dass Brücken wie Innenstädte in den fünf neuen Bundesländern seit 1990 erneuert und für Investoren aufgehübscht wurden, während in der alten BRD die gesamte Grundsubstanz bröckelt.

Anfang der 90er seien von der PDS-Fraktion im Bundestag »Ausgleichszahlungen für die von der DDR zu über 90 Prozent geleisteten Reparationszahlungen Deutschlands an die UdSSR gefordert« worden, schrieb der ostdeutsche Ökonom Klaus Steinitz 2020 in einem Beitrag für die BpB. Diese Forderung bewertet er im Rückblick als »völlig unrealistisch«. Aus seiner Sicht wäre es »besser gewesen, anstelle der Forderung nach Ausgleichszahlungen der BRD an die DDR die moralische Anerkennung der Tatsache zu verlangen, dass die DDR die Hauptlast der Reparationen zu tragen hatte«.

Steinitz glaubt, dass damit »die Bürgerinnen und Bürger der DDR« die nach seiner Einschätzung 1989 im übrigen keineswegs bankrott war, »mit mehr Würde in den Vereinigungsprozess hätten gehen können«. Denn die Reparationsleistungen bremsten die ökonomische Entwicklung der DDR erheblich, insbesondere bei den Investitionen. Und sie waren ein wesentlicher Grund für ihren ökonomischen Rückstand gegenüber der BRD.

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