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Hoffnung auf mehr Demokratie
Bevorstehende Parlamentswahlen in Irakisch-Kurdistan von regionalen Machtkämpfen überschattet
Die Autonomieregion Kurdistan im Irak bereitet sich auf die Wahlen zum Regionalparlament vor. Rund 2,9 Millionen Einwohner des mehrheitlich von Kurden bewohnten Gebiets im Nordirak sind am 20. Oktober berechtigt, ihre Stimme für 1196 Kandidaten abzugeben. Das seit 1992 bestehende Parlament der Autonomieregion wird durch Verhältniswahl bestimmt und umfasst 100 Abgeordnete. Dabei müssen mindestens 30 der Sitze von Frauen besetzt sein, fünf stehen Repräsentanten der turkmenischen und christlichen Minderheiten zu.
Bei den letzten Wahlen im September 2018 gingen die regierende Demokratische Partei Kurdistans (KDP) mit 45 Sitzen und die oppositionelle Patriotische Union Kurdistans (PUK) mit 21 Sitzen mit Abstand als die stärksten Parteien hervor. Während die Autonomieregion auf dem Papier zwar durch eine einzige Regierung verwaltet werden sollte, ist sie seit dem Ende des innerkurdischen Bürgerkriegs im Jahr 1997 in zwei Teile gespalten.
Dynastische Regenten
In den südlichen Provinzen Suleimanijeh und Halabdscha regiert die PUK, im Norden, in Erbil und Dohuk, die KDP, beide mit jeweils eigenen Sicherheitskräften und Nachrichtendiensten. Die Parteien repräsentieren dabei vor allem die Interessen der Großfamilien Talabani und Barzani, die die Region seit Jahrzehnten de facto dynastisch regieren. Der Machtanspruch beider Parteien, der notfalls auch mit militärischer Gewalt und harscher Repression gegen den politischen Gegner durchgesetzt wird, lastete seit ihrer Geburt wie ein dunkler Schatten über der südkurdischen Demokratie.
Irakisch-Kurdistan galt bislang als eine Art Oase der Stabilität in der Konfliktregion Naher Osten. Selbst ausländische Investoren entdeckten die Autonome Region Kurdistan als attraktiven Standort, doch die glitzernden Wolkenkratzer in der Regionshauptstadt Erbil lenken von den Problemen ab, die den Irak als Ganzes betreffen: Korruption, politische Unterdrückung und Vetternwirtschaft.
Politikverdruss
»Ich werde nicht wählen gehen, weil die kurdischen Politiker nichts tun«, erklärte eine 33-jährige Näherin gegenüber dem Nachrichtenportal »Al-Monitor«, während sie über einen Markt in Erbil schlenderte, wo die Menschen sich über die Lebenshaltungskosten Sorgen machen.
Seit den letzten regionalen Parlamentswahlen vor sechs Jahren hat Irakisch-Kurdistan erhebliche Umwälzungen erlebt. Die Behörden haben Schwierigkeiten, die Gehälter im öffentlichen Sektor zu zahlen, was zu großer Unzufriedenheit mit den Regierungsparteien geführt hat. Im März 2023 kappte die Türkei die unabhängigen Ölexporte aus der Autonomieregion, nachdem ein internationales Schiedsgericht zugunsten der Zentralregierung in Bagdad entschieden hatte. So verschärften sich die wirtschaftlichen Probleme zusätzlich.
Die Großfamilien Talabani und Barzani regieren die Region seit Jahrzehnten de facto dynastisch.
Die bevorstehende Wahl ist die erste, welche durch die Unabhängige Hohe Wahlkommission der irakischen Zentralregierung (IHHE) abgehalten und kontrolliert wird. Bereits im Oktober 2022 urteilte das oberste irakische Verfassungsgericht, dass nur die zentralirakische Behörde die Wahl überwachen könne. Das Parlament in Erbil erklärte daraufhin eine Verlängerung seiner Legislaturperiode bis Oktober 2023.
Auch der ursprünglich für den 10. Juni angesetzte Wahltermin musste verschoben werden, nachdem die KDP im März erklärt hatte, die Wahlen aus Bedenken über die Sitzverteilung und die Repräsentation der Minderheiten zu boykottieren. Kritiker sahen in der Verzögerung der Wahlen einen Versuch der KDP, ihre bestehende Macht zu erhalten.
Vorwurf der Wahlmanipulation
Insbesondere der regierenden KDP wurden in den letzten Jahren Manipulationen der Wahlen vorgeworfen. So sollen gefälschte Ausweise an loyale Milizionäre aus Syrien und dem Iran ausgegeben worden sein, oder durch mehrfache Stimmabgabe an unterschiedlichen Orten wurde das Ergebnis verfälscht. Diesmal will die IHHE ein mehrfach gesichertes Wahlverfahren anwenden, bei demdie Stimmen sowohl manuell als auch elektronisch gezählt werden. Außerdem erhalten alle Wahlberechtigten biometrische Wahlausweise, was eine mehrfache Stimmabgabe unmöglich macht und Hoffnung gibt auf einen faireren Verlauf der Wahl.
Die bevorstehende Wahl wird auch von den regionalen Machtkämpfen überschattet. So gilt die KDP als wichtiger Verbündeter der Türkei in der Region und toleriert nicht nur die türkische Invasion im Nordirak, sondern ihre Peschmerga-Verbände unterstützen die türkische Armee im Kampf gegen die Guerilla der PKK mit Bodenaufklärung und Logistik. Die PUK hingegen verurteilte die Unterstützung der KDP für die türkische Besatzungspolitik in scharfen Tönen.
Schwieriges Verhältnis zur Zentralregierung
Präsidentschaftskandidat Bafel Talabani warf der Familie Barzani vor, »die Erde Kurdistans zu verkaufen« und sprach in offensichtlichem Bezug auf die PKK-Guerilla jüngst auf einer Wahlkampfkundgebung von den »Brüdern auf den Bergen«.
Auch in der Frage der Beziehungen zur irakischen Zentralregierung in Bagdad unterscheiden sich die Positionen der beiden Parteien: Während die PUK um gute Verhältnisse mit der irakischen Zentralregierung bemüht ist, eskalierten unter der Regierung der KDP die Spannungen mit Bagdad, vor allem in der Frage des Ölhandels.
Kurden in Nachbarstaaten verfolgen aufmerksam die Wahlen
Vonseiten der kurdischen Organisationen in den Nachbarstaaten wird die Wahl mit Spannung und Hoffnung auf Veränderung verfolgt. So forderten die Ko-Vorsitzenden der nordsyrischen Partei der Demokratischen Union am Dienstag die Bevölkerung Südkurdistans, also der kurdischen Gebiete im Irak, dazu auf, ihre Stimme den Kandidaten der PUK zu geben.
Auch der Dachverband der kurdischen Freiheitsbewegung, die Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans KCK, rief dazu auf, für »patriotische Kandidaten« zu stimmen. Die KDP habe sich des »Verrates« und der »Kollaboration« mit der türkischen Besatzung schuldig gemacht und habe nichts mit der »kurdischen Sache« gemein.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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