Skepsis auf dem Mond

Leandro Erlich stellt im Kunstmuseum Wolfsburg aufwendig produzierte Installationen aus. Ginge es nicht auch eine Nummer kleiner?

  • Matthias Reichelt
  • Lesedauer: 4 Min.
In Erlichs Rakete ist man nur scheinbar schwerelos.
In Erlichs Rakete ist man nur scheinbar schwerelos.

Ein dreistöckiges Haus schwebt in der Luft, an seiner Unterseite hängen Wurzeln – offenbar wurde es dem Boden entrissen. Die Skulptur ist eines der einprägsamsten Exponate der Ausstellung »Schwerelos«, die der argentinische Künstler Leandro Erlich exklusiv für das Kunstmuseum Wolfsburg konzipiert hat. Sie kann eine Metapher sein für all die entwurzelten und heimatlos gewordenen Menschen, die auf der Flucht vor Kriegen, Verfolgung und Unterdrückung sowie Klimakatastrophen auf eine bessere Zukunft an einem anderen Ort hoffen. Gleichwohl kann sie auch allgemein für radikal veränderte Verhältnisse und brüchig gewordene Gewissheiten stehen.

Erlich, 1973 in Buenos Aires geboren, will unsere Perspektive einer völligen Verdrehung unterziehen, um einen Prozess der Reflexion in Gang zu setzen. Der Hauptraum des Kunstmuseums Wolfsburg, eine sehr große und über 20 Meter hohe Halle, ist fast dunkel und wird nur spärlich durch die pointiert auf drei spektakuläre Bauten – ein Mond, eine Rakete und besagtes schwebendes Haus – ausgerichteten Bühnenstrahler erleuchtet. Der Künstler stellt unsere gewohnten geografischen Verhältnisse regelrecht auf den Kopf: Über die gesamte Decke im Raum, also über den Köpfen der Betrachter, zieht sich eine gemalte Luftansicht einer typisch europäischen Landschaft mit abgezirkelten Feldern unterschiedlicher Nutzung, durchzogen von Straßen und Flüssen. Dagegen wächst aus dem Boden ein halber Mond in einer Breite von 20 Metern. Außerdem im Raum: eine 13 Meter hoch aufragende silberne Rakete, die auf zwei Ebenen betretbar ist. Wenn sich oben Menschen auf die Glasfläche im Inneren der Rakete begeben, wirken sie für nach oben blickende Personen im unteren Teil so, als würden sie schweben.

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Die andere körperlich erfahrbare Illusion befindet sich in dem begehbaren Inneren des weißen Mondes. Die Skulptur birgt einen Kuppelraum, dessen Boden verspiegelt ist. Die in die Kuppel projizierte Weltraumansicht scheint somit auf dem Boden wider. Besucher, die den Raum betreten, scheinen so den Boden unter den Füßen zu verlieren und ins tiefe Schwarz des Weltraums zu stürzen. Mit dem etwas modischen Begriff der »Immersion« wird dieser Effekt des Eintauchens in eine andere Welt beschrieben – eigentlich ein uraltes Phänomen des illusionistischen Theaters, der Jahrmärkte und des Zirkus, das sich hier nun im Kunstraum entfaltet. Die optische Täuschung war bei der Pressekonferenz so überzeugend, dass sich einige der Teilnehmerinnen und Teilnehmer nicht auf die Spiegelfläche trauten. Einige Treppen höher im Mond befindet sich eine Plattform, von der aus man in einiger Höhe einen Blick auf die gesamte Rauminstallation werfen kann, so auch auf das in einer Ecke unter der Decke hängende entwurzelte Haus. Dieses ist von innen beleuchtet und offenbart aus den unterschiedlichen Positionen, die man im Raum und auf einer Empore einnehmen kann, durcheinandergewirbeltes Mobiliar.

Leandro Erlich ist in anderen Ländern wesentlich bekannter als in Deutschland. Seine Werke waren hier bislang nur selten zu sehen, wie etwa vor neun Jahren, als sein entwurzeltes Haus im Rahmen einer Ausstellung des Zentrums für Kunst und Medien in Karlsruhe über dem Karlsruher Marktplatz an einem Kran hing. In Wolfsburg läuft nun die erste große Einzelausstellung Erlichs in Deutschland. Freilich konnte es sich nur eine finanziell potente Institution leisten, Erlichs Installationen auszustellen, da diese über Wochen von verschiedenen Firmen und zahlreichen Fachleuten produziert werden mussten. So beeindruckend der illusionäre Raum mit seiner irritierenden Wirkung auf Wahrnehmung und Perspektive auch ist und bestimmt auch auf Kinder eine starke Wirkung haben wird, machte sich beim Rezensenten doch etwas Skepsis bezüglich des immensen Aufwands breit. Ist nicht schon das Bild des entwurzelten Hauses als zweidimensionales Motiv aussagekräftig genug? Muss es unbedingt als großes Objekt von der Decke hängen? Bedarf es wirklich der überwältigenden Bauten, um die illusionistischen Momente zu erzielen? Dass der Künstler jenseits der großen Inszenierungen auch ganz anders arbeitet, dafür finden sich Belege auf der unteren Ebene wie auch auf der Empore der großen Halle. Eine luftig-weiße Wolke zum Beispiel, schwebend in einer Vitrine. Und dort, wo der obere Zugang zur Rakete ist, ruhen in kleinen Vitrinen einige Skulpturen, die eine Verbindung von Mensch und Tier zu eindringlichen Objekten generieren. Eine Schnecke, deren Gehäuse das Antlitz eines menschlichen Gehirns hat und deren Fühler aus einer geballten menschlichen Hand mit zwei zum Siegeszeichen emporgestreckten Fingern bestehen. Man muss nicht unbedingt Günter Grass’ »Tagebuch einer Schnecke« kennen, um die Ironie von Leandro Erlichs Skulptur zu verstehen: Wenn die Einsicht in die Notwendigkeit der Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse weiterhin im Schneckentempo vonstattengeht, gibt es nicht viel Grund für das »Victory«-Zeichen.

»Leandro Erlich: Schwerelos«, bis zum 13. Juli 2025, Kunstmuseum Wolfsburg

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