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Brasilien und Argentinien: Abholen bei den Grundbedürfnissen
Der Berliner Linke-Abgeordnete Ferat Koçak war zur politischen Weiterbildung in Südamerika
Sie waren vor einigen Wochen in Brasilien und Argentinien. Was war der Hintergrund der Reise?
Ich war letztes Jahr privat auf Kuba und habe viel über meine Eindrücke berichtet. Als dann ein Kongress der Landlosenbewegung MST in Brasilien bevorstand, hat mich das Internationale Büro der Linken gefragt, ob ich hinreisen möchte, um darüber zu berichten. Ich habe zugesagt, wollte aber nicht nur für eine Woche nach Brasilien reisen, um nicht so einen riesigen CO2-Fußabdruck zu hinterlassen. Also habe ich privat noch Argentinien ins Programm genommen, um dort politische Gespräche zu führen. Seit der ultrarechte Präsident Javier Milei an der Regierung ist, gibt es Proteste gegen ihn mit viel Polizeirepression. Die Armut in Argentinien nimmt zu.
Der MST-Kongress wurde schließlich aufgrund von Überschwemmungen im Süden Brasiliens abgesagt.
Daraufhin haben wir umgeplant. Ich hatte Termine mit Parlamentarier*innen und Personen aus der Regierungspartei PT und der Linkspartei PSOL, die gerade in São Paulo mit ihrem Kandidaten Guilherme Boulos Bürgermeisterwahlkampf macht. Und ich bin mit Vertreter*innen sozialer Bewegungen zusammengekommen wie der Wohnungslosen- und der Landlosenbewegung. Hunger, Wohnungsnot und Armut sind zentrale Themen.
Ferat Koçak ist Linke-Politiker und seit 2021 Mitglied im Berliner Abgeordnetenhaus. Im September gab er bekannt, dass er zusammen mit einem gesellschaftlichen Bündnis das Bundestagsdirektmandat in Neukölln erobern will. Auf einer Reise nach Brasilien und Argentinien im Sommer hat er sich umgeschaut, wie linke Politik anders aussehen könnte.
In Argentinien habe ich Gewerkschafter*innen getroffen, die dort sehr stark Basisarbeit machen. Und Vertreter*innen von FOL, einer Organisation, die in den Armenvierteln von Buenos Aires Kitaplätze schafft, alleinerziehenden Müttern Unterstützung anbietet, aber die Leute auch über Versammlungen organisiert, damit sie Wege aus ihrer prekären Situation finden können. Ich habe versucht zu verstehen: Wie politisieren sie die Menschen, wie entsteht Widerstand von unten und wie wird dann Druck auf Parteien aufgebaut?
Was haben Sie da gelernt?
Wir müssen unser linkes Profil schärfen – und wir müssen die Menschen mit ihren Grundbedürfnissen, die dieses System nicht mehr erfüllt, abholen, um sie zu politisieren. Nicht noch mal den zehnten Lesekreis zu Marx organisieren, sondern schauen, wo die Probleme sind. Und das hat Deutsche Wohnen & Co enteignen gezeigt: Wenn man zu den Menschen geht und mit ihnen über ihre Probleme redet, also steigende Mieten, und darüber, dass Wohnungskonzerne die Häuser hier verkommen lassen, weil sie einfach nur noch auf Profit ausgerichtet sind, dann funktioniert das. Aber wir sehen auch, dass die einzige Partei in Berlin, die im Wahlkampf das Volksbegehren unterstützt hat und umsetzen wollte – Die Linke – bei 12 Prozent gelandet ist.
Welche Schlüsse ziehen Sie daraus?
Wir sollten versuchen, den Leuten direkt zu helfen – und wenn wir das nicht können, ihnen Wege zeigen, wie sie sich selbst helfen können und wie wir gemeinsam für Veränderung kämpfen können. Aber das reicht noch nicht. Das ist das, was ich in Brasilien und Argentinien gelernt habe.
Dort gibt es zum Beispiel Solidarküchen, die aufgrund des Hungers der Menschen gegründet wurden. Aber diese Solidarküchen sind mehr: Es sind soziale Orte, wo es auch Rechts- und Sozialberatung gibt, wo versucht wird, alleinerziehenden Müttern zu helfen, wenn sie arbeiten gehen, und, und, und. Bis zu dem Punkt, dass die Solidarküchen Arbeitsplätze für die Menschen in ihren jeweiligen Vierteln schaffen. Das ist die Frage: Was sind die Bedürfnisse der Menschen, die sie aufgrund ihrer finanziellen Lage nicht erfüllen können?
Wie versuchen Sie, diese Erfahrungen in den hiesigen Kontext zu übertragen?
Wir als Die Linke in Neukölln wären jetzt nicht imstande, solch eine Küche zu organisieren. In Brasilien habe ich aber Aktivist*innen von UNEafro getroffen, die in den Favelas Jugendlichen, die die Aufnahmeprüfung für die Universität machen wollen, ein Jahr lang Prüfungsvorbereitungen anbieten – kostenlos. In Berlin haben wir so viele Akademiker*innen und Lehrer*innen. Warum bieten wir Eltern nicht kontinuierlich Hausaufgabenhilfe für ihre Kinder bei uns im Büro an? Man befriedigt ein Grundbedürfnis, das die Familien dazu noch finanziell entlastet. Außerdem ist es eine Möglichkeit, mit Jugendlichen ins Gespräch zu kommen. Ein Thema, das wir bereits umsetzen, ist die Sozialsprechstunde. Zweimal im Monat können die Leute mit allen ihren Problemen zu uns kommen – und wir versuchen, Lösungen zu finden. Manchmal geht es nur darum, einen Behördenbrief zu schreiben oder sie zur Ausländerbehörde oder zum Bürgeramt zu begleiten. Bisweilen wird es komplizierter, wenn sie Schulden haben. Dann kontaktieren wir die Schuldenberatung. Es geht darum, ihnen Wege zu zeigen, damit sie nicht hilflos sind.
Das Aufgreifen realer Probleme ist das eine. Die Bewegungen hinter dem brasilianischen Ex-Präsidenten Jair Bolsonaro und dem argentinischen Präsidenten Javier Milei weisen Parallelen zum Aufstieg der AfD hierzulande auf. Was haben Sie da mitnehmen können?
Das Zentrale ist: Wenn das Haus brennt, dann müssen die Nachbar*innen zusammenhalten und gemeinsam versuchen, den Brand zu löschen. Die Frage für die Linke ist: Wie schaffen wir Bündnisse? Interessant fand ich das Konzept von FIT-U in Argentinien, einem trotzkistischen Linksbündnis aus vier Parteien. Die haben sich auf einige wichtige Punkte geeinigt und gesagt, zu bestimmten Themen agieren wir gemeinsam: Soziales, die Wohnungsproblematik, Armut, Renten, aber auch die Klimakrise, die Ausbeutung der Siedlungsgebiete indigener Völker und der Kampf gegen den Faschismus.
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Als kleinster gemeinsamer Nenner?
Genau. Aber dann haben sie sich vor mir gestritten. Ich hatte eine Frage gestellt, bei der sie sich nicht einig waren. Ich habe dann gefragt: Okay, wie kommuniziert ihr das? Die Antwort war: Wir kommunizieren das jeweils als eigene Partei. Die vier Parteien kommunizieren also ihre eigenen Standpunkte und dort, wo sie gemeinsam agieren, steht FIT-U darüber. Solch eine Struktur könnte ein Modell sein. Auch bei den Treffen in Brasilien ging es viel darum: Wie hat Brasiliens Präsident Luiz Inácio Lula da Silva es geschafft, gegen Bolsonaro zu gewinnen? Wie haben sie dieses breite Bündnis aufgestellt?
Wie kann das hier umgesetzt werden?
Solch ein breites Bündnis, wie es Lula umgesetzt hat, ist hier undenkbar, weil sich in Brasilien Menschen und Parteien vor allem auf Grundlage der Unzufriedenheit mit Bolsonaro organisiert haben. Interessanter fand ich das breite Bündnis für die Bürgermeisterwahlen in São Paulo aus Kommunistischer Partei, Grünen, Tierrechtsparteien bis hinein in die Lula-Partei PT, weil es eher in der Linken breit aufgestellt ist und sehr stark an den Bewegungen anknüpft.
Der Kandidat Boulos kommt selbst aus der Wohnungslosenbewegung MTST und hat zum Wahlkampfauftakt einen Saal mit 10 000 Menschen gefüllt. Das ist etwas, das wir hier aufbauen müssen. Da kommt natürlich auch der Partei Die Linke oder linken Parteien insgesamt die Verantwortung zu, ein Stück weit voranzugehen. Vielleicht ergibt sich die Möglichkeit, im Wahlkampf breitere Bündnisse zu schaffen.
Sie haben kürzlich Ihre Bundestagskandidatur für das Direktmandat im Wahlkreis Neukölln bekannt gegeben. Wie könnte ein Bündnis in Neukölln aussehen?
Es gibt mehrere Parteien, so Die Urbane, die Klimaliste, Mera25 – die Partei von Yanis Varoufakis –, die in Neukölln zahlreiche Unterstützer*innen haben, sowie Bewegungen und Initiativen, mit denen ich in Gesprächen bin. Wie schaffen wir es, uns in Neukölln breiter aufzustellen und gemeinsam zu agieren? Die Zeit drängt. Die regierenden Parteien lassen sich von der AfD treiben. Ihre Politik schafft den Nährboden, auf dem die rechten, rassistischen und nationalistischen Ideen heranwachsen und gesellschaftsfähig werden. Deshalb ist es wichtig zu sagen: »Linke aller Couleur – vereinigt euch!«
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