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Latinos in den USA: Wahlentscheider statt Sündenböcke
Die Minderheit der Latinos könnte den Ausgang der US-Wahlen im November bestimmen und wird daher von allen Seiten hofiert
Als Donald Trump in der Fernsehdebatte mit Kamala Harris die haarsträubende Lügengeschichte erzählte, dass Einwanderer in Springfield, Ohio, Katzen und Hunde essen würden, war er doch in einem Punkt sehr vorsichtig: Die Lügen betrafen Haitianer, aber keine Latinos. Immerhin stimmen Wahlberechtigte, die selbst oder deren Vorfahren aus Lateinamerika stammen, erwartungsgemäß zwischen 20 und 40 Prozent für den Präsidentschaftskandidaten der Republikaner. Latino-Wähler aus den umkämpften Swing States Pennsylvania oder North Carolina gelten zudem als noch am ehesten unentschieden und werden daher von den Bewerbern beider Parteien seit Monaten intensiv hofiert.
Dieser recht zynische Umgang mit dem Wahlvolk hat seinen Preis und ist auch ein Grund dafür, dass sich keine Partei der Stimmen der Latinos gewiss sein kann. Es lohnt sich daher ganz besonders, diese Gruppe von immerhin 36 Millionen Wahlberechtigten in den USA näher zu beleuchten, wenn man die Krise der amerikanischen Politik verstehen will. Die Parteien versagen immer mehr bei der Wählerbindung, besonders was die Arbeiter betrifft, weil sie sich meist auf die Mobilisierung der Menschen konzentrieren, die sie sicher auf ihrer Seite wissen.
Wieso aber bilden Latinos einen unsicheren Posten in der sonst so festgefahren wirkenden politischen Landschaft der USA? Der erste Grund ist die schiere Größe der Gruppe. Die USA sind schon jetzt das fünftgrößte spanisch sprechende Land der Welt, denn 42 Millionen von den insgesamt hier lebenden 60 Millionen Menschen mit entsprechender Migrationsgeschichte (knapp 20 Prozent haben keine US-Staatsbürgerschaft) sprechen Spanisch noch als Muttersprache. 60 Prozent von ihnen sind mexikanischer Herkunft. Und es ist vor allem das relativ starke Bevölkerungswachstum der Latinos, das – mehr als alle anderen Faktoren – dazu führen wird, dass die weiße Bevölkerung in rund 15 Jahren nicht mehr die Mehrheit in den USA stellen wird. In den USA lebende Menschen mit lateinamerikanischen Wurzeln sind im Schnitt zudem relativ jung; im November werden 20 Prozent von ihnen das erste Mal in ihrem Leben abstimmen.
Die Wahlen am 5. November 2024 sind für die US-Bürger wie auch den Rest der Welt eine der wichtigsten Richtungsentscheidungen dieser Zeit. »nd« berichtet über die Stimmung und Probleme im Land, über Kandidaten und ihre Visionen. Alle Texte zur US-Wahl finden Sie hier.
Solch eine immens große Gruppe sammelt naturgemäß sehr heterogene Erfahrungen. Latinos sind teilweise Nutznießer des hiesigen Integrationswunders, fühlen sich wie fleißige Eroberer des amerikanischen Traums und agieren dabei in der Marktwirtschaft betont staatsunabhängig. Daher tendieren einige politisch eher zur marktliberalen republikanischen Partei. Andererseits sind viele Latinos auch Opfer von massiver Ungleichheit und Fremdenhass und somit an einem funktionierenden ausgleichenden Rechtsstaat interessiert. Sie hegen in diesem Fall Sympathien für die Demokraten.
Auf welche Seite sie sich diesmal mehrheitlich schlagen, wird für die Wahl am 5. November sehr wichtig sein: In Pennsylvania etwa wird in diesen Wochen um 600 000 Latino-Stimmen gekämpft. Zur Erinnerung: Präsident Joe Biden gewann hier vor vier Jahren bei fast 7 Millionen Gesamtwählern mit nur 80 000 Stimmen Vorsprung. In anderen Swing States wie Arizona und Nevada ist ihr Anteil sogar noch höher. Wie die Latinos wählen, könnte am Ende also auch das ganze Land abstimmen.
Jahrelang war die Demokratische Partei sicher: Je mehr nichtweiße Wähler es in den USA gibt, also vor allem je mehr Schwarze und Latinos, desto sicherer war ihnen eine Mehrheit. Seit dem New Deal unter Präsident Franklin Roosevelt in den 30er Jahren standen Latinos mehrheitlich stets zu dessen Demokraten. 60 Jahre später kam ein neuer Grund dazu – ausgerechnet in dem Bundesstaat, aus dem die heutige Präsidentschaftskandidatin Kamala Harris stammt: Kalifornien. 1994 sollte das berüchtigte Referendum »Proposition 187« vermeintlich illegalen Einwanderern medizinische und schulische Dienstleistungen verweigern. Formuliert hatten es zwei ehemalige Staatsminister des einstigen republikanischen Gouverneurs Kaliforniens, Ronald Reagan. Unerwartet eindeutig fiel die Antwort der Wähler aus: 59 Prozent von ihnen wollten diese Verweigerung, nur 41 Prozent lehnten sie ab. Über die nächsten zehn Jahre aber blockierte ein Bundesgericht die zu erwartenden schlimmen Konsequenzen dieses Referendums, bis es irgendwann komplett eingestampft wurde. Die direkte Demokratie scheiterte zum Glück am Rechtsstaat.
So wie die Mehrheit der Latinos wählt, könnte am Ende auch das ganze Land abstimmen.
Doch die eigentliche Auswirkung von »Proposition 187« war eine ganz andere Gegenbewegung: Zehntausende Schüler aus Latino-Familien streikten aus Protest und demonstrierten auf den Straßen Kaliforniens. Sie politisierten sich in dieser Zeit; Hunderte Anwälte und Journalisten gingen später aus ihren Reihen hervor. Die vorwiegend mexikanischstämmigen »Chicanos« wollten nicht länger Sündenböcke oder Verfügungsmasse sein wie viele ihrer Eltern. Kalifornien wandelte sich daraufhin von der republikanischen Hochburg Reagans und Schwarzeneggers zu einem sicheren Bundesstaat für die Demokraten.
Andernorts aber ist die Entwicklung gegenläufig, wie Hillary Clinton und auch Joe Biden zur Kenntnis nehmen mussten. Biden hätte seinen Geburtsstaat Pennsylvania im Jahr 2020 um ein Haar wie auch Clinton vier Jahre zuvor verloren, weil Trump unerwartet viele Stimmen von Latinos in den Arbeitervierteln von Philadelphia erhielt. Etliche von ihnen glaubten, Trump würde für eine stärkere Wirtschaft und mehr Polizei auf den als unsicherer empfundenen Straßen sorgen.
Besonders unter Männern der dritten und vierten Einwanderergeneration genießt Trump mehr Einfluss. Sie fühlen sich als hart arbeitende Repräsentanten des amerikanischen Traums. In großer Mehrheit Arbeiter ohne Hochschulbildung, favorisieren sie eine boomende und wenig regulierte Wirtschaft, denken also, dass sie auch mit wenig staatlicher Einmischung gut auskommen. Dieses Lebensgefühl ist tief verankert. Latinos haben schließlich, wie weiße Staatsbürger, die USA selbst besiedelt; der Staat spielte dabei kaum eine Rolle.
Der Sieger der Präsidentschaftswahl wird nicht durch ein landesweites Ergebnis direkt ermittelt, sondern muss mindestens 270 der insgesamt 538 Wahlleute auf sich vereinen, die von den einzelnen Bundesstaaten entsandt werden. In sieben Bundesstaaten haben beide Kandidaten Chancen zu gewinnen. Besonders Pennsylvania im Nordosten, das 19 Wahlleute zu vergeben hat, ist ins Zentrum der Wahlschlacht gerückt.
Dort wie auch in den übrigen sechs Staaten dürfte das Ergebnis derart knapp ausfallen, dass am Ende ein paar tausend Wähler entscheiden könnten. Daher fürchten viele, dass das Ergebnis am 5. November noch nicht feststeht, denn Trump dürfte das Wahlergebnis im Falle seiner Niederlage erneut anzweifeln: vor Gericht mit einem Heer von Anwälten, die einzelne Wahlergebnisse anfechten und – angesichts des Klimas der Gewalt im Wahlkampf – vielleicht auch mit anderen Mitteln.
Rund 244 Millionen Menschen sind zur Wahl aufgerufen. Die Mobilisierung ist groß: Bis Donnerstag hatten bereits fast 30 Millionen Bürger vorzeitig ihre Stimme abgegeben. So oder so werden die US-Bürger am 5. November Historisches zustande bringen: Entweder wählen sie erstmals eine Frau ins mächtigste Amt der Welt – oder einen verurteilten Straftäter. AFP/nd
Die Republikaner ihrerseits wussten diese Schichten erstaunlich gut zu überzeugen. Während des Kampfes um Bürgerrechte für Schwarze in den 60er und 70er Jahren flüsterten die Republikaner den Latinos ein, sie seien anders und könnten stolz sein, keine Almosen vom Staat zu beanspruchen. Schon bei der polarisierten Wahl zwischen dem erzkonservativen Barry Goldwater und Lyndon Johnson im Jahr 1964 übertraf unter Goldwaters Anhängern der Latino-Stimmanteil den der Schwarzen, die historisch eigentlich der Republikanischen Partei Abraham Lincolns verbunden gewesen waren. Seitdem erhöhte sich die Zustimmung von Latinos für die Republikaner immer weiter. Richard Nixon galt als erster »Latino-Präsident«, er besetzte einige wichtige Ämter mit hispanischen Politikern und führte Programme zur Förderung von Kleinunternehmern aus der Community ein.
Die Demokraten versuchen natürlich immer wieder nachzuziehen. So verspricht Kamala Harris Bürgern, die zum ersten Mal ein Haus kaufen, nach ihrem Wahlsieg einen staatlichen Zuschuss von 25 000 Dollar (ca. 22 500 Euro). Es ist ein Programm, das besonders auf Latinos zugeschnitten zu sein scheint, weil es mehrheitlich zu ihrer Lebenssituation passt. Analysten zufolge schaffte es aber keine Partei, langfristig die Loyalität der Latinos zu gewinnen. Denn oft dienen derlei Programme nur als Mobilisierungskampagnen, statt dauerhaft Ungleichheiten zu bekämpfen.
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