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Kongo: »Ich helfe mir selbst, sonst hilft mir keiner«
Der Kongolese Jean Pierre Kawaya kämpfte sich aus der Armut
Jean Pierre Kawaya wäre im Dezember 2020 beinahe gestorben. Er lief in seiner Heimatstadt Goma in der Demokratischen Republik Kongo zum Laden um die Ecke, da wurde ihm schwarz vor Augen. Er brach zusammen. Schlaganfall.
Heute sitzt Kawaya quicklebendig in Sporthose und T-Shirt auf einem Plastikstuhl im Zimmer seines Sohnes. Die Brille trägt Papa Jean Pierre, wie ihn im Viertel alle nennen, an einem Band um den Hals, damit sie nicht verloren geht. Neben ihm hängt ein Fernsehgerät mit Flachbildschirm an der Wand.
»Ich bin damals nach Burundi gereist und habe mich von Spezialisten behandeln lassen«, erzählt Kawaya. 300 Dollar hat ihn das gekostet. 57 Dollar bezahlt er seither jeden Monat für Herztabletten. Es gab Zeiten, da hätte er sich das nicht leisten können, den Arztbesuch, die Pillen, die Brille, den Fernseher. »Ich hatte nichts«, sagt Kawaya.
Er lebt in einer der ärmsten Regionen der Welt, die seit 30 Jahren von Gewalt geplagt wird. Aber er hat sich aus der Not gekämpft. Das schaffen zwei Drittel bis drei Viertel der Armen auf der Welt. So schreibt es das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung auf seiner Webseite. Der Armutsforscher Wolfgang Fengler hält diese Zahlen für realistisch. »Es gibt aber starke geografische Unterschiede«, sagt er am Telefon. Wo die Wirtschaft wächst und Frieden herrscht, kämen die Menschen schneller aus der Armut als in Krisengebieten. Kawaya hatte also schlechte Karten – und hat es trotzdem geschafft.
»Der Weg aus der Armut basiert auf einem informellen Gesellschaftsvertrag«, sagt Joseph Nzabandora, Soziologieprofessor an der Universität Goma: »Jeder in der Großfamilie gibt, was er kann, sodass ein Familienmitglied eine Tätigkeit anfangen kann, die Geld bringt.« In Goma könne man zum Beispiel mit zehn Dollar Fische im Hafen am Kivusee kaufen, die Ware in den Straßen an Passanten vertreiben, und damit so viel verdienen, dass die Familie abends etwas zu essen hat und am nächsten Tag wieder Fische gekauft werden können, erzählt der Professor. »Der, dem es am schlechtesten geht, bekommt das Startkapital als erster«, sagt Nzabandora. Der Weg aus der Armut sei ein ständiges Auf und Ab. Die Kunst sei es, oben zu bleiben.
Auch Kawaya ging es schlecht, damals, 1967. Weshalb der Familienrat just ihm, dem Jungen, der gerade die Hauptschule abgeschlossen hatte, 30 Zaire gab, weiß Kawaya nicht mehr. Das entsprach etwa 60 Dollar, was eine stattliche Summe war.
Kawaya fand keinen Job, Stellen waren rar – und der soziale Druck war enorm. Kawaya musste eine Familie gründen. Das gehört sich bis heute so im Kongo. Der junge Mann wusste, dass viele Kinder kommen würden, 13 wurden es insgesamt.
Das Startkapital der Familie half Kawaya aus der Patsche. Er erstand für sieben Zaire ein Feld mit Bananenpalmen. Das übrige Geld investierte er in Zigaretten, Erdnüsse und Bier. Er stellte sich an den Straßenrand und vertickte die Ware an Nachbarn, Besucher und Passanten.
»Mein Traum war es, Kaffeehändler zu werden«, erinnert sich Kawaya. 200 Zaire musste er sparen, damit er die ersten Bohnen von einem Großhändler kaufen konnte. Nach elf Jahren war es soweit. Aus dem Zigarettenjungen wurde ein Geschäftsmann. Kawaya lieferte den Kaffee eines Großhändlers ins Nachbarland Ruanda und bekam dafür eine Provision. Von Ruanda ging der Kaffee in alle Welt.
»Ich habe nie irgendetwas von einer Hilfsorganisation erhalten«, sagt Kawaya. Und sein Leben dauert schon 72 Jahre. Erzählt man Kawaya, dass manche Helfer prahlen, dass »jedes Baby, das ich rette, es wert ist, morgens in den Spiegel zu schauen«, lächelt er milde. Kawaya musste seine Kinder immer selbst retten. Zweimal hat er das nicht geschafft. Das waren Rückschläge im Leben des Familienvaters, wie auch der Moment, als er nach vier Jahren das Kaffeegeschäft verlor. Wegen der Inflation hatte Diktator Mobutu Sese Seko über Nacht neue Geldscheine eingeführt. »Was man hatte, war nichts mehr wert«, erinnert sich Kawaya. So ging der Großhändler, für den er arbeitete, pleite, der Job war weg.
Wenn man im Kongo jemanden fragt, was er beruflich macht, sagen viele: »Ich mache Artikel 15«. Frei übersetzt bedeutet das: »Ich helfe mir selbst, sonst hilft mir keiner.« Es gibt verschiedene Versionen, woher der Ausdruck »Artikel 15« stammt. Die geläufigste in Goma geht so: Als Mobutu den Kongo ruiniert hatte, und die Soldaten nicht mehr bezahlen konnte, sagte er: »Ihr habt Waffen, schlagt euch durch.« Seither sprechen die Kongolesen vom imaginären Verfassungsartikel 15, den Mobutu erlassen habe.
Auch Kawaya befolgte nach der Pleite Artikel 15. »Ich habe ein anderes Geschäft gesucht. Ich habe Häuser gekauft, renoviert und wieder verkauft«, erzählt er. Das war möglich, weil er dank des Kaffeehandels zehn Felder zum Preis von je 5000 Zaire gekauft hatte, was einem Wert von insgesamt 100 000 Dollar entsprach.
Einen Teil der Felder veräußerte Kawaya, um sein Geschäft mit dem Renovieren zu beginnen. Damit konnte er seine damals fünf Kinder und seine Frau durchbringen. Er konnte sogar ein Grundstück in Goma kaufen. Dort wohnt er immer noch mit seiner zweiten Frau, mit einem Sohn, zwei Töchtern und mit sechs Enkeln.
Kawaya steht nach langem Erzählen von seinem Plastikstuhl auf und tritt in den Hof. Er zeigt auf vier Holzhütten und sagt: »Ich vermiete sie, das ist mein Alterseinkommen.« Die Mieter bezahlen für ein halbes Jahr im voraus insgesamt 720 Dollar. Kawaya kauft dann auf dem Großmarkt Bohnen, Mehl, Öl und Holzkohle zum Kochen auf Vorrat. »Große Mengen sind viel billiger«, weiß er. Der Rentner und seine Frau gehen nie mit leerem Magen ins Bett. Die erwachsenen Kinder versorgen sich selbst. Sie betreiben Garküchen oder vermitteln Autos oder Ersatzteile gegen Provision. »Wir sind Mittelstand«, sagt Kawaya.
Im Hof präsentiert er stolz einen Wasserhahn. Kawayas Enkel müssen nicht wie andere zum See laufen, um Wasser auf dem Rücken nach Hause zu schleppen. Hinter dem Wasserhahn steht ein solides Steinhaus. Vier Zimmer, Dachterrasse, es ist das Zuhause von Kawaya, sein ganzer Stolz. Im frisch gestrichenen Wohnzimmer schaut er manchmal mit den Enkeln fern.
Das Haus entstand Stück für Stück. Immer wenn Kawaya Geld hatte, kaufte er Zement und ließ weiter bauen. Drei Jahre lang hat es gedauert, bis das Heim fertig war. Es hat 17 500 Dollar gekostet. Kawaya verkaufte dafür weitere Felder. Jetzt besitzt er noch zwei, die er für 120 Dollar pro Jahr verpachtet. Die Bauern liefern ihm zudem Kartoffeln, Bananen, Kohl oder Bohnen ins Haus.
Kawaya könnte nun ruhig leben, wäre da nicht schon wieder Krieg. Milizen und Soldaten pressen den Bauern, die ihre Ware vom Land in die Stadt bringen, Wegezoll ab. Mehl, Palmöl oder Holzkohle kosten drei- bis fünfmal so viel wie vor drei Jahren, als der neue Krieg ausbrach. Auch dieses Mal legen alle in der Familie zusammen. »Wir essen jeden Tag, trotz der teuren Preise«, versichert Kawaya.
Er ist inzwischen auf die Dachterrasse gestiegen. Von dort schaut er auf sein kleines Reich mit den vermieteten Hütten. Wohlstand ist für ihn, dass »uns noch nie Wasser und Strom gekappt wurden, weil wir nicht bezahlt haben.« In Goma sitzen viele Leute immer wieder im Dunkeln, weil sie nicht genug Geld haben, um rechtzeitig ihre Stromeinheiten am Prepaid-Zähler aufzuladen.
Für Wasser und Strom geben Kawaya und seine Mieter je nach Verbrauch insgesamt 16 bis 18 Dollar im Monat aus. Zu den Fixkosten kommen vier Dollar für die Männer hinzu, die in der Nacht im Viertel patrouillieren und Banditen abschrecken sollen. Die Bürger engagieren die selbst ernannten Hilfssheriffs, weil die Polizisten nicht ausrücken oder selbst in Raubüberfälle verwickelt sind.
Kawaya schaut auf die 17 Hühner und die vier Enten, die auf der Dachterrasse herumwatscheln. Ganz selten verkauft er ein Tier für fünf bis zehn Dollar an einen Bekannten, wenn jemand ein Fest feiert. Aber die Hühner hält er nicht, um Geld zu verdienen. Sie erfreuen sein Herz. Den Luxus gönnt er sich nach all den Jahren des Kämpfens.
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