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- Inside Bündnis Wagenknecht
Lehrstück politischer Aufmerksamkeitsökonomie
In nur zwölf Monaten hat es Sahra Wagenknecht von der Oppositionellen an die Schwelle politischer Macht gebracht. Eine Dokumentation hat sie begleitet
Eine Rüstung verleiht das Gefühl von Uneinnehmbarkeit. Selbst, wenn sie nicht aus mittelalterlichem Metall oder neuzeitlichem Kevlar, sondern Make-up, Blazer und Perlen besteht, wird die Fassade zur Festung. Derart gepanzert hat Margaret Thatcher mit grimmiger Entschlossenheit Englands Zivilgesellschaft zertrümmert. Angela Merkel blickte dabei zwar freundlicher drein als die Eiserne Lady; hinter der Raute jedoch war die Kanzlerin ähnlich schwer zu erstürmen wie ihr neues Ebenbild: Sahra Wagenknecht.
Seit 30 Jahren äußerlich unverändert Teil des politischen Establishments, wettert sie in ihrer Rüstung gegen letzteres und geriert sich als externe Angreiferin der Trutzburg Parlamentarismus. Und wie viel Erfolg sie damit in der Talkshowrepublik Deutschland hat, kann man jetzt in der ZDF-Doku-Serie »Inside Bündnis Wagenknecht« erleben. Ohne den Vornamen Sahra im Titel zwar, aber die steckt dafür ja in der zugehörigen Partei, besser noch: Sie ist diese Partei.
Zwölf Monate haben Andrea Maurer und Christiane Hübscher das Bündnis Sahra Wagenknecht auf dem Weg vom Gründungsplan bis zur Brandenburg-Wahl begleitet. Fünf Episoden eilt ihr BSW dabei von Triumph zu Triumph. Drei Stunden geht es allerdings vor allem um das aktuell – abgesehen von Markus Söder natürlich – selbstbewussteste Alphatier der repräsentativen Demokratie und dessen dreifaltiges Wirkprinzip. Laut Untertitel: »Rebellin, Realistin, Populistin«. Nur echt mit angehängtem Fragezeichen.
Immer, wenn Sahra Wagenknecht einen Raum betreten habe, sei die Temperatur darin »um fünf Grad gesunken«.
Michael Kretschmer Ministerpräsident Sachsen
Denn was genau Wagenknecht will, kann, darf, muss: All dies bleibt auch nach Ansicht der letzten von 180 Minuten diffus, wo sie ausnahmsweise mit Hose statt Rock inmitten blühender Landschaften ankündigt, »aus der Opposition« mit einer »starken Kraft Politik verändern« zu wollen. Was indes von der ersten Sekunde an deutlich wird: Sahra Wagenknecht ist die Verkörperung der politischen Aufmerksamkeitsökonomie schlechthin.
Schon morgens im Badezimmer sitzt demnach ihr Panzer: einfarbiger Zweiteiler, Perlenohrringe, Steckfrisur, dazu dieses spöttisch-überlegene Lächeln, mit dem sie sogar das eigene Spiegelbild bedenkt. Sahra Wagenknecht verlässt in keinem, wirklich keinem Moment dieser faszinierenden Langzeitstudie den PR-Modus strikter Situationskontrolle – da mögen die Fachleute, Berichterstatter und Analysten der Mediengesellschaft noch so über ihre »Politikverachtung«, die Martin Machowecz (»Die Zeit«) an ihr ausmacht, klagen.
Vom Aufbruch zur neuen Partei Anfang September 2023 bis zur Pulverisierung der alten in Brüssel, Dresden, Erfurt, Potsdam und womöglich bald auch Berlin, begleitet das Autorinnenduo die rechtsblinkende Ex-Marxistin durch ein Jahr, das mit ereignisreich geradezu lethargisch umschrieben wäre. Nie zuvor ist einer Politikerin vom parlamentarischen Rand hierzulande rasanter Einfluss, ja Macht zugewachsen wie dieser, weshalb allerdings keine, nicht mal Alice Weidel, unter so akribischer Beobachtung stand.
Kein Wunder, dass Unregelmäßigkeiten in Echtzeit ausgeschlachtet werden. Während sich der erste Teil der Doku – prominent vertreten durch Journalisten wie »Spiegel«-Vize Melanie Amann oder »Bild«-Reporter Paul Ronzheimer – neben dem Marsch durch die Institutionen um Wagenknechts offensiv-erratische Friedensrhetorik kümmert, macht der zweite die Diskrepanz zwischen Kleine-Leute-Fetisch und Reiche-Leute-Spenden deutlich, bevor der dritte das hierarchische BSW-System als Personenkult dechiffriert.
Alles richtig, alles wichtig, alles allerdings auch ein klein wenig egal angesichts von Wagenknechts Siegesserie »mit fast nichts«, wie Dunja Hayali unlängst nach dem nächsten überwältigenden Wahlsieg im »Heute-Journal« sagte, »kaum Personal, kaum Mitglieder, kaum Inhalte«. Mag ja sein. Dennoch hält Wagenknechts BSW die Schlüssel dreier Landesregierungen in den Händen. Diesem Naturereignis geht das ZDF ohne Suggestivfragen, Off-Kommentare, manipulativem Soundtrack auf den Grund und lässt alle einfach reden: Feinde und Fans, Konkurrenten und Wähler, Linke und Rechte, Akademiker und Passanten, Oskar Lafontaine und Gregor Gysi oder auch Sachsens sichtlich erschöpften Ministerpräsidenten Michael Kretschmer.
Nach seinem Wahlsieg entfährt ihm auf die Frage denkbarer BSW-Kooperationen ein Satz, der noch lange im Publikumskopf herumschwirren dürfte: Immer, wenn Sahra Wagenknecht einen Raum betreten habe, sei die Temperatur darin »um fünf Grad gesunken«. Dieses kühl kalkulierte Machtstreben macht jedoch nicht nur frösteln; es sorgt für ein außergewöhnliches Porträt eines außergewöhnlichen Gesichts einer außergewöhnlichen Partei in absolut außergewöhnlicher Zeit.
Verfügbar in der ZDF-Mediathek
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