- Politik
- Queer in der Ukraine
Eine Pride Parade im Krieg
Die queere Community in der ostukrainischen Stadt Charkiw entwickelt sich inmitten einer vom Krieg gezeichneten Gesellschaft
Die Mitglieder der LGTBQI-Gemeinde im ostukrainischen Charkiw darf man gefahrlos als Optimisten bezeichnen. An einem warmen Septemberabend feiern sie die Einweihung des »PrideHub« in der Innenstadt der Millionenstadt. In den Räumlichkeiten finden Veranstaltungen und Beratungen für queere Menschen statt. Obwohl die zuvor genutzten Räume bei einem der zahlreichen russischen Bombardements zerstört wurden, wollen sich die Aktivisten des Trägervereins »Sfera« keine Zukunft außerhalb ihrer Stadt vorstellen. Das erklärt, weshalb der neue Treffpunkt nicht etwa gemietet ist, sondern gleich gekauft wurde.
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Weniger Rechte für queere Menschen
Um die Rechte queerer Menschen ist es Ukraine allerdings nicht so gut bestellt, wie westliche Medien oft behaupten; der EU-Beitrittskandidat hat hier noch einen weiten Weg vor sich. Im Ranking der LGTBQI-Lobbyorganisation Ilga belegt die Ukraine nur Platz 40 von 46. Am besten schneidet das katholische Malta (87,8 Prozent) ab, am schlechtesten die Russische Föderation (2 Prozent).
In der Ukraine sind gleichgeschlechtliche Ehen nach wie vor nicht erlaubt. Ein Gesetzentwurf zu Hassverbrechen, der auch die sexuelle Orientierung der Opfer einbeziehen sollte, wurde nicht verabschiedet. Manchmal scheint es, als wäre die Zivilgesellschaft schon weiter als die Politik, und als würde die Akzeptanz für queere Menschen zunehmen. Wenngleich die ukrainische Antidiskriminierungsorganisation »Nash Svit« noch immer homo- und transphobe Zwischenfälle verzeichnet, zuletzt sogar in ansteigender Zahl. In den ersten sechs Monaten dieses Jahres waren es 29 Vorfälle. Im Vorjahr noch 25.
Allerdings werden auch Fälle aus den russisch besetzten Gebieten erfasst. Demnach musste ein 23-Jähriger in Jalta auf der Halbinsel Krim 950 Euro Strafe zahlen, weil er in einem Nachtklub ein Frauenkleid getragen hatte. Trotz aller innerukrainischen Probleme ist immer wieder zu hören, dass ein Sieg Russlands für queere Ukrainer das schlimmste Szenario wäre. Denn dann drohen ihnen harte Strafen. So kann schon das Tragen von regenbogenfarbenen Ohrringen zu fünf Tagen Haft führen, wie »Human Rights Watch« berichtet.
Spenden ans Militär
In der Ukraine hingegen geht die Gesellschaft den umgekehrten Weg einer zaghaften Liberalisierung. In Charkiw versammeln sich einige Dutzend Leute im monatelang umgebauten Kellergeschoss von »Sfera«. Ein kleines Buffet ist aufgebaut, Tombolalose werden verkauft, Eröffnungsreden gehalten. Das eingenommene Geld spenden die Charkiwer an verschiedene Militäreinheiten. »Wir haben 800 000 Griwna gesammelt«, gibt die 22-jährige Darina stolz zu Protokoll. Das sind fast 18 000 Euro – in der Ukraine viel Geld. »Das ist die beste Investition in unsere Sicherheit«, fährt die Englischlehrerin fort. »Aber es hilft natürlich auch unserer Akzeptanz.« Als schlechter Patriot möchte niemand im Land gelten.
Vor dem Lokal stehen etwa 20 Polizisten, die die Besucher vor Übergriffen schützen sollen. Bei einer Veranstaltung vor der offiziellen Eröffnung demonstrierte eine kleine Gruppe junger Rechtsradikaler auf der anderen Straßenseite. Auch im Alltag stößt Homosexualität auf wenig Begeisterung. »Ich würde nicht überall händchenhaltend mit meiner Freundin herumlaufen«, gibt die ebenfalls 22-jährige Marija Holownja zu. »Allerdings ist es für Frauen trotzdem etwas einfacher als beispielsweise für Männer oder trans Personen.« Der vergleichsweise hohe Frauenanteil bei der Veranstaltung unterstreicht Marijas These. Allerdings verlassen einige Männer aus Angst vor einer Einberufung zum Militär kaum noch das Haus.
»Ich würde nicht überall händchenhaltend mit meiner Freundin herumlaufen. Allerdings ist es für Frauen trotzdem etwas einfacher als beispielsweise für Männer oder trans Personen.«
Marija Holownja
Über Gefühle reden
Die ukrainische Gesellschaft ist mit ihrer bislang wertkonservativen Einstellung in Osteuropa kein Einzelfall. Vor allem bei Älteren hat die Religion einen hohen Stellenwert. Aber auch »in der Sowjetdiktatur haben Generationen von Menschen nicht gelernt, über ihre Gefühle zu sprechen«, resümiert Marija. »Es gibt noch immer viele Tabus. Das wollen wir ändern.« Gemeinsam mit einer Freundin hostet Marija den Podcast »oholeni«, was »nackt« heißt. Es geht um Liebe, Sex und Alltagsprobleme. Damit wollen die beiden die Mauer des verklemmten Schweigens durchbrechen und sexuelle Minderheiten sichtbar machen.
Ein fast konspiratives Treffen findet am nächsten Morgen auf dem »Platz der Verteidiger der Ukraine« statt. An mehreren Ecken stehen kleine Gruppen der LGTBQI-Aktivistinnen und -Aktivisten. Einige tragen das traditionelle ukrainische Hemd Wyschywanka mit regenbogenfarbener Bestickung. Langsam treten sie auf das Denkmal für die Gefallenen zu, einen großen zweigeteilten Betonblock. In ihren Händen halten sie rote und weiße Nelken, die sie auf einer mit Stahlplatten verkleideten Mauer ablegen. Auf dieser befinden sich bereits Fotos von verstorbenen Freunden und Weggefährten, die im Abwehrkampf gegen Russland ihr Leben gelassen haben.
Die meisten der zwölf Fotos sind verpixelt. Männer wie Aleksander, Wassyl oder Maksim haben ihre Homosexualität nie öffentlich gemacht. »Sie starben unsichtbar und verschlossen«, sagt die 22-jährige Anna, die seit knapp anderthalb Jahren im Organisationsteam von »Sfera« arbeitet. Für Anna ist dieses Schweigen »eine Frage der Menschenrechte«. Outen will man die Gefallenen nach dem Tod nicht. Was die Männer zu Lebzeiten nicht getan haben, wird respektiert. Nach einer halben Stunde verstreut sich die queere Gemeinde wieder. Manche müssen zur Arbeit, andere malen Schilder für den nächsten Tag.
Von New York nach Charkiw
Weltweit wird in den Sommermonaten der Christopher Street Day (CSD) gefeiert. Anlass ist eine gewalttätige Polizeirazzia am 28. Juni 1969 im »Stonewall Inn«, einer Bar in der New Yorker Christopher Street. Die Polizei gängelte Homo- und Transsexuelle bis dahin regelmäßig, besonders Schwarze und Latinos standen im Fokus. Es kam zu Straßenschlachten, die als Geburtsstunde des jährlich gefeierten CSD gelten. Heute sind die Aufzüge weltweit als Pride Parades bekannt. Bis vor wenigen Jahren meist in Großstädten abgehalten, ziehen die Prides heute auch durch kleinere Gemeinden. In Ostdeutschland marschierten im Sommer 2024 teils Hunderte Rechtsextreme gegen die Umzüge auf, die sie als »Pervertierung« der Gesellschaft und »Frühsexualisierung« von Kindern diffamieren. Entgegen der Party-Umzüge in Großstädten bekamen die Märsche in der Provinz somit explizit eine noch politischere Note.
In Charkiw hat man ähnliche Probleme. Für die Pride Parade wurde im Vorhinein ein umfangreiches Sicherheitskonzept entwickelt. Die LGTBQI-Aktivisten treffen sich an mehreren Orten, wo sie in Autos einsteigen. Anstelle einer Demonstration zu Fuß geht es also im Autokorso in die Innenstadt. Dadurch ist man einerseits für mögliche russische Angriffe ein zu bewegliches Ziel, aber auch für Gegner daheim schwerer zu greifen.
Aus den Autos hängen Plakate auf denen »Unterschiedliche Menschen sind gleichberechtigte Bürger« oder »Bewaffnet die Ukraine jetzt!« steht. Ein anderes Schild zeigt fallende Bomben und den Spruch »Blumenbeete schützen nicht«. Auch hier also die Mischung von Protest gegen Diskriminierung und patriotischen Kriegsparolen. Als die 13 Autos mit etwa 60 Teilnehmenden am imposanten Freiheitsplatz ankommen, werden sie von fast ebenso vielen Polizeitransportern begleitet. Schnell riegeln die Ordnungskräfte den fast menschenleeren Platz ab. Ukrainische und Regenbogenflaggen werden geschwenkt, Sprechchöre für die Armee angestimmt und Fotos gemacht. Nach einer kurzen Rede, in der der Polizei ausdrücklich für ihre Arbeit gedankt wird, verschwinden die Plakate und Aufkleber wieder von den Autos, auch die Dachfähnchen werden eingepackt. Die Menge fährt in verschiedene Richtungen davon.
Rechtsradikale auf der Lauer
Kurz nach der Kundgebung wird klar, weshalb. Ein paar Dutzend Schaulustige haben sich auf dem Platz versammelt, darunter auch Rechtsextreme. Still beäugen sie die Demonstration, fotografieren und filmen. Beim Weggehen nähern sich mir und meiner Fotografin Sitara Ambrosio drei junge Männer und eine Frau und beschimpfen uns homophob. Einer der Männer trägt ein T-Shirt mit einer stilisierten Wolfsangel. Das jahrhundertealte Symbol dient Rechtsextremen heute als Erkennungszeichen. Auch die berüchtigte Asow-Brigade verwendet es in ihrem Wappen. Das Zeichen steht dabei für »Idee der Nation«. Erst als die Gruppe merkt, dass sie dabei ist, Journalisten anzugreifen, zieht sie weiter.
Danach zeigt sich Charkiw wieder von seiner sonntäglichen Seite. An diesem Tag schlendern Familien durch den Zoo, man trinkt Kaffee oder geht in die Kirche. Auch die jungen Neonazis zieht es in einen Park, wo sie auf einer Bank den Nachmittag ausklingen lassen. Wenig später hallen vier dumpfe Donnerschläge durch die Straßen. Aus Russland sind wieder Gleitbomben abgefeuert worden. Eine davon schlägt in einem Wohnhaus ein, eine 94-jährige Frau stirbt.
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