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Frontex gibt halbe Milliarde für Luftüberwachung aus
Neue Recherchen zeigen fortgesetzte Verwicklung in Pullbacks nach Nordafrika
Die Europäische Grenzagentur Frontex hat seit 2017 über 500 Millionen Euro in Luftüberwachung im Mittelmeerraum investiert. Darüber berichtet die italienische Zeitung »Altreconomia« und ergänzt damit neue Untersuchungen des Forschungsprojekts Liminal. Dessen Recherchen zeigen, dass die Überwachungsmittel nicht dem Schutz von Menschen auf See dienen, sondern ihrer erzwungenen Zurückweisung nach Libyen oder Tunesien.
Liminal wurde vor zwei Jahren an der Universität Bologna zur forensischen Untersuchung von Grenzgewalt gegründet. In einer derzeit in einer Ausstellung in Paris gezeigten Recherche dokumentiert das Forschungszentrum mindestens 240 neue Fälle, in denen Frontex-Aufklärungsflüge gezielt Boote im zentralen Mittelmeer an die libysche oder tunesische Küstenwache gemeldet haben, die die Geflüchteten dann gegen ihren Willen in die nordafrikanischen Länder zurückgeholt haben. Allein zwischen 2019 und 2023 waren über 27 000 Menschen von solchen Pullbacks betroffen.
Die Forschung von Liminal basiert auf 319 000 Datensätzen aus dem »Joint Operation Reporting Application« (JORA), dem Frontex-internen Datenbanksystem. Darin erfasst die Agentur alle ihre Aktivitäten, auch im zentralen Mittelmeer. In insgesamt 473 Fällen wurden demnach Boote mit Geflüchteten auf dem Weg nach Europa durch Frontex entdeckt, bevor libysche oder tunesische Einheiten diese aufgriffen und zur Rückkehr zwangen. Die Recherchen zeigen, dass diese Routinen nicht zufällig sind, sondern die Aufklärungsflüge im Rahmen der Frontex-Operation »Themis« strategisch zur Migrationsabwehr eingesetzt werden.
Ein bedeutender Teil dieser Überwachungsarbeit von Frontex wird durch Drohneneinsätze übernommen. Unter anderem nutzt die Grenzagentur zwei Exemplare des Modells »Heron«, produziert vom israelischen Rüstungskonzern Israel Aerospace Industries, die auch im Gazastreifen für militärische Zwecke eingesetzt werden. Eine dieser Drohnen ist in Malta, eine weitere auf Kreta stationiert. Eine weitere Drohne aus Israel hatte Frontex 2019 erprobt, diese »Hermes« erlitt aber nach wenigen Monaten Totalschaden.
Die Forschenden von Liminal konnten mithilfe von JORA-Datensätzen ab 2016 eine signifikante Anzahl von Fällen rekonstruieren, in denen der Frontex-Überwachungsdienst Boote erfasste, bevor diese nach Libyen oder Tunesien zurückgewiesen wurden. Die Pullbacks finden in Zusammenarbeit mit der libyschen Küstenwache statt, die durch die EU seit 2017 finanziell und organisatorisch unterstützt wird.
Aus einem neuen Satz von JORA-Daten geht hervor, dass Überwachungsteams in Warschau, dem Sitz von Frontex, Bilder in Echtzeit analysieren und Entscheidungen treffen, wer in Nordafrika für Pullbacks benachrichtigt wird. Allein für die Operation »Themis« dokumentierte Liminal 473 bislang unbekannte Fälle, bei denen Boote von Frontex entdeckt und dann nach Libyen oder Tunesien zurückgeholt wurden.
»Die Verantwortungskette bei diesen Einsätzen ist extrem komplex«, betont Giovanna Reder von Liminal gegenüber dem »nd«. Die von Flugzeugen und Drohnen gewonnenen Informationen durchliefen mehrere Instanzen, von Warschau bis zu den Einsatzleitstellen in Italien, Malta und Griechenland.
Liminal zeigt, wie Frontex die Pullbacks verschleiert, indem die Einsätze in den JORA-Datensätzen systematisch als »Prävention von Abfahrten« bezeichnet werden. »Frontex setzt damit einen Trend fort den wir schon lange beobachten«, sagt Reder. Die Agentur agiere zudem immer intransparenter und gebe auf Anfragen nach dem Informationsfreiheitsgesetz immer weniger Daten preis.
Die libysche Küstenwache steht seit Langem im Verdacht, Abgefangene schwer zu misshandeln und unter menschenrechtswidrigen Bedingungen in Gefängnissen festzuhalten und dort zu misshandeln. Trotz vielfacher Beweise über die katastrophalen Umstände in libyschen Lagern zeigt Frontex bisher keine Neigung, die Kooperation mit der Küstenwache zu beenden. Im Gegenteil: Die Überwachungskapazitäten von Frontex wurden in den letzten Jahren massiv ausgebaut.
Jedoch legt der für Menschenrechtsfragen zuständige Artikel 46 der Frontex-Verordnung der Agentur die Pflicht auf, solche Operationen zu stoppen, wenn dadurch wie in Libyen oder auch Tunesien, das Pogrome gegen Geflüchtete fördert und diese in der Wüste aussetzt, Verletzungen der Menschenrechte gefördert werden.
Anlässlich dieser völkerrechtswidrigen Praxis hat die anwaltliche Organisation Front-Lex zusammen mit der Gruppe Refugees in Libya rechtliche Schritte gegen Frontex vor dem Europäischen Gerichtshof eingeleitet. Ein Kläger aus dem Sudan, der seit 2019 in libyscher Haft unter gefährlichen Bedingungen lebt, wirft Frontex vor, durch das Teilen von Positionsdaten seine erzwungene Rückführung und seine anschließende Folter in Libyen begünstigt zu haben.
Der Front-Lex-Anwalt Ifatch Cohen fordert im Namen des Klägers, dass Frontex den Schutz der Menschenrechte ernst nimmt. In seiner Argumentation verweist er auf das EU-Recht, wonach eine indirekte Förderung von Menschenrechtsverletzungen nicht zulässig ist. Es gebe bereits ausreichende Belege für Frontex’ Mitverantwortung an Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Libyen, erklärt Cohen auf Anfrage des »nd«. Es brauche demnach nicht noch mehr Beweise, sondern ein kompetentes Gericht, das den Opfern von Frontex Zugang zu rechtlichem Schutz gewähre. »Wir hoffen, dass Richterin Maria José Costeira unseren Fall endlich zulässt«, so der Anwalt.
Am 24. Oktober 2024 war der 20. Jahrestag zur Gründung von Frontex. In mehreren Städten in Europa und Afrika gab es dazu Demonstrationen, Veranstaltungen und Aktionen, darunter in Brüssel, Berlin, Bregenz, Innsbruck, Calais und Dakar.
In der senegalesischen Hauptstadt traf sich Anfang Oktober auch das aus Hunderten Freiwilligen bestehende Netzwerk Alarm Phone, das im Oktober sein zehnjähriges Bestehen feierte. Über die Notrufnummer können Geflüchtete auf dem Mittelmeer um Hilfe bitten. Das Alarm Phone leitet diese Meldungen an die zuständigen Seenotleitstellen im zentralen Mittelmeer weiter.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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