- Politik
- Abtreibung in den USA
Politik vorbei am Willen des Volkes
Seit der Oberste Gerichtshof im Sommer 2022 das Abtreibungsrecht kippte, ist das Thema wieder mitten im Fokus der Politik
In gewissem Sinne ist es überraschend, dass das Thema Abtreibung im US-Wahlkampf eine so große Rolle spielt. Angesichts der Meinungsumfragen könnte man sich wundern, warum diese politische Frage nicht schon längst endgültig im Sinne des Rechts auf körperliche Selbstbestimmung entschieden wurde. Schließlich kommt eine Erhebung des Fernsehsenders CNN vom Mai dieses Jahres zum Ergebnis, dass etwa zwei Drittel der US-Bevölkerung das Urteil des Obersten Gerichtshofs aus dem Sommer 2022, welches das landesweite Recht auf Schwangerschaftsabbrüche abschaffte, als Fehlentscheidung betrachten.
Der Richterspruch im Fall »Dobbs vs. Jackson Women’s Health Organization« negierte die seit 1973 geltende Rechtsauffassung, die eine reproduktive Selbstbestimmung als Teil der in der Verfassung verbrieften Persönlichkeitsrechte auffasste. Damit wurde das Thema wieder auf die politische Tagesordnung katapultiert und gewann eine Brisanz, die es in den Jahren zuvor eigentlich verloren hatte. Denn während die liberalen Abtreibungsgesetze in demokratisch regierten Bundesstaaten wenig kontrovers waren, beschlossen republikanische Mehrheiten in Staatenparlamenten zwar immer weitere Restriktionen, die aber aufgrund der bundesweiten Rechtslage überwiegend wirkungslos blieben.
Mit dem Urteil des Supreme Court änderte sich dies. Damit ergab sich für die Republikaner jedoch ein offenbar unerwartetes politisches Problem, denn auch in den meisten konservativen Bundesstaaten ist inzwischen die Mehrheit der Menschen zumindest dafür offen, Abtreibungen in bestimmten Fällen zuzulassen. So lehnten die Wählerinnen und Wähler bei Volksabstimmungen selbst in Kansas, Ohio und Kentucky extreme Restriktionen ab oder sprachen sich sogar für ein allgemeines Recht auf Schwangerschaftsabbrüche aus. Die teils extremen Gesetze, die von den Republikanern eigentlich aus politischer Symbolik beschlossen worden waren, wurden mit dem Dobbs-Urteil plötzlich geltendes Recht – und gingen an der Realität der politischen und gesellschaftlichen Mehrheitsverhältnisse völlig vorbei. Doch selbst nach dem Urteilsspruch wurden die Regelungen in bestimmten Staaten nochmals verschärft. So sind Abtreibungen in Texas nun auch in Fällen von Vergewaltigung oder Inzest verboten.
Das ist auch dort unbeliebt, und sowohl die Republikaner als auch die Demokraten wissen dies. Die Kongresswahlen von 2022 gingen für die Demokraten wohl auch deshalb unerwartet gut aus, weil viele Wählerinnen und Wähler über den Extremismus der Konservativen bei dem Thema empört waren und deshalb trotz Vorbehalten gegen Präsident Joe Biden seiner Partei noch einmal ihre Stimme gaben. Die Konservativen sind in der Abtreibungsfrage derweil Getriebene ihrer eigenen Koalitionsarithmetik: Für einen Teil der Parteibasis ist das Thema identitätsstiftend, er macht auch die etwa 20 Prozent der US-Bevölkerung aus, die wirklich strikt gegen jegliche Abtreibungen sind. Der eher wirtschaftsliberale Flügel blickt dagegen nervös auf ihr kompromissloses Vorgehen, kann aber nicht verhindern, dass, wer heute bei den Republikanern parteiinterne Vorwahlen gewinnen will, sich klar gegen eine Liberalisierung des Abtreibungsrechts positionieren muss.
Die Republikaner suchen deshalb seit dem Urteil der Verfassungsrichter nach Wegen, dieses Thema zu neutralisieren. Ihr Präsidentschaftskandidat Donald Trump hat hier auch Boden gutgemacht. Grob gesprochen basiert die Strategie hier auf drei Säulen. In der Fernsehdebatte zwischen Trump und der demokratischen Kandidatin Kamala Harris ließen sich gleich alle drei beobachten.
Die Wahlen am 5. November 2024 sind für die US-Bürger wie auch den Rest der Welt eine der wichtigsten Richtungsentscheidungen dieser Zeit. »nd« berichtet über die Stimmung und Probleme im Land, über Kandidaten und ihre Visionen. Alle Texte zur US-Wahl finden Sie hier.
Erstens wird der Zustand, dass nun die Bundesstaaten wieder zuständig sind, als wünschenswert und demokratische Errungenschaft dargestellt. Texas sei nicht Kalifornien, und die Leute vor Ort sollten selbst entscheiden, wie sie zu Schwangerschaftsabbrüchen stehen, so die Botschaft der Republikaner. Ausgespart wird hierbei, dass der Flickenteppich an Regelungen eine enorme Rechtsunsicherheit schafft und die Illusion der »Wahlfreiheit« an der materiellen Realität der Betroffenen vorbeigeht: Ob man es sich leisten kann, für eine (ohnehin teure) Abtreibung in einen anderen Bundesstaat zu reisen, ist in erster Linie eine Klassenfrage. Außerdem verstarben zuletzt immer wieder Patientinnen nach Komplikationen, als es für einen Transport über Staatengrenzen hinweg für sie zu spät ist. Die Demokraten machen solche Schicksale zum Wahlkampfthema.
Besonders zynisch ist diese Argumentation der Konservativen auch, weil in ihren Reihen gleichzeitig laut über ein bundesweites Abtreibungsverbot nachgedacht wird. Einige republikanische Strategen wollen sogar bereits bestehende Gesetze aus dem 19. Jahrhundert dafür nutzen, selbst Verhütungsmittel landesweit zu verbieten.
Eine zweite Angriffslinie der Republikaner betrifft sogenannte »Spätabtreibungen«, ein irreführender Terminus: Denn solche Eingriffe werden praktisch immer erst nach medizinischer Indikation unternommen. Unter der alten Rechtsprechung des Supreme Court waren Schwangerschaftsabbrüche im ersten Trimester generell erlaubt, danach griffen Regulierungen nach medizinischen Kriterien auf Bundesstaatenebene. Die Republikaner spinnen daraus den Mythos, die Gegenseite wolle Abtreibungen »bis nach der Geburt« erlauben – eine absurde Unterstellung, die aber dennoch bei manchen Zielgruppen effektiv den Vorwurf des Extremismus umkehren kann.
Die letztlich wichtigste Strategie der Konservativen besteht aber darin, das Thema insgesamt zu minimieren. Der Wahlkampf in den USA ist vor allem geprägt von Alltagssorgen, zuvorderst den gestiegenen Preisen und der nur langsam nachziehenden Reallohnentwicklung. Außenpolitische Themen wie das Verhalten der Biden-Regierung im Nahost-Konflikt haben zudem zu einer Entfremdung von Teilen der jüngeren Wählerschaft von den Demokraten geführt.
Dies bedeutet aber nicht, dass das Thema Abtreibung niemanden mehr kümmern würde: Von links außen bis weit in der Mitte ist der Frust über das Urteil des Obersten Gerichtshofs groß. Doch ein restriktives Abtreibungsrecht ist eine eher abstrakte Bedrohung – bis man selbst oder die eigenen Angehörigen davon betroffen sind. Die Inflation ist dagegen jetzt im Alltag omnipräsent. Auch deshalb wird das Thema – anders als 2022 – die Wahl am kommenden Dienstag vermutlich nicht entscheiden.
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