Strafanzeige gegen Erdoğan: Gegen das Gefühl der Straflosigkeit

Vereine stellen Strafanzeige wegen Kriegsverbrechen gegen türkischen Präsidenten Erdoğan

  • Jakob Helfrich
  • Lesedauer: 4 Min.
Türkischer Soldat in den Syrien: Ankara greift regelmäßig zivile Objekte in den kurdischen Gebieten an.
Türkischer Soldat in den Syrien: Ankara greift regelmäßig zivile Objekte in den kurdischen Gebieten an.

Keine Woche nach den letzten türkischen Angriffen auf Nord- und Ostsyrien haben drei Vereine Strafanzeige gegen den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan sowie Mitglieder seines Kabinetts und führende Militärs wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit gestellt.

Bei dem ungewöhnlichen Vorgang geht es allerdings nicht um die jüngsten Angriffe, bei denen 18 Menschen getötet und über 70 verletzt wurden, sagte die Außenbeauftragten der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien, Elam Ahmad, bei einer Pressekonferenz am Freitag in Berlin.

Türkei bombardierte zivile Infrastruktur

Die Verbrechen, die zur Anzeige gebracht wurden, stammen aus dem vergangenen Jahr. Damals hatte die Türkei in mehreren Angriffswellen vornehmlich zivile Infrastruktur in der Region bombardiert. Dutzende Menschen kamen dabei ums Leben, mehrere Hunderttausend waren nach den Angriffen ohne Strom und fließend Wasser gewesen.

Dieses Vorgehen hält der Kölner Verein MAF-DAD – Verein für Demokratie und internationales Recht für völkerrechtswidrig und hat zusammen mit Unterstützer*innen Strafanzeige beim Generalbundesanwalt gestellt. Unter den Unterstützer*innen der Anzeige ist auch der Armut und Gesundheit e.V., welcher als Trägerverein das Kobanê Medical Center betrieb. Das Zentrum wurde bei einem Angriff am ersten Weihnachtsfeiertag 2023 vollständig zerstört. 3500 Personen pro Jahr versorgte die Einrichtung laut dem Arzt Gerhard Trabert, der selbst einige Male vor Ort war, vor ihrer Zerstörung. Gerade das angeschlossene Diabeteszentrum und das Kinderimpfzentrum haben wichtige Arbeit geleistet. Trotz der eindeutigen Kennzeichnung als zivile Einrichtung habe es die Türkei ins Visier genommen.

Mehrere medizinische Einrichtungen angegriffen

Das Kobanê Medical Center ist nicht die einzige medizinische Einrichtung, die Ende Dezember vergangenen Jahres von der Türkei bombardiert wurde. Auch ein Dialysezentrum und eine Abfüllstation für medizinischen Sauerstoff in der weiter östlich gelegenen Stadt Qamischli waren in der gleichen Angriffswelle zerstört worden. Während die Angriffe keine direkten Opfer forderten, starb lokalen Medien zufolge wenige Tage später ein 65-jähriger Patient aufgrund fehlender Dialyse.

Die Anzeige richtet sich nach Auskunft von Rechtsanwältin Heike Geiswald von MAF-DAD bewusst an die Generalbundesanwaltschaft. Diese habe bereits in mehreren Fällen zu Verbrechen in Syrien, zumeist gegen Folterer des syrischen Regimes, nach dem Weltrechtsprinzip ermittelt. Dieses sieht vor, dass auch Taten in anderen Ländern, unabhängig von der Staatsangehörigkeit der Täter oder Opfer, verfolgt werden können, wenn es sich um Verstöße gegen das Völkerstrafrecht handelt.

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Anzeige gegen Erdoğan ist ein politisches Zeichen

Ob es tatsächlich zu Ermittlungen gegen Erdoğan, seinen Außenminister Hakan Fidan, den Verteidigungsminister Yaşar Güler und andere kommen wird, ist unklar. Tatsächlich hatte bereits im Februar dieses Jahres ein Gutachten des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags im Falle des Angriffs auf das Kobanê Medical Center die Vermutung angestellt, es könne sich dabei um ein Kriegsverbrechen nach dem Statut des Internationalen Strafgerichtshofes handeln. Allerdings, so der wissenschaftliche Dienst, können Staatsanwaltschaften von Ermittlungen absehen, wenn sich die Beschuldigten nicht im Inland befinden.

Frühere Anzeigen durch den Verein MAF-DAD gegen türkische Offizielle in den Jahren 2011 und 2016 wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen durch die Türkei in den kurdischen Gebieten führten nicht zu Ermittlungen. Den Anzeigesteller*innen geht es aber auch um ein politisches Zeichen. Es dürfe nicht der Eindruck entstehen, dass Angriffe auf zivile und medizinische Einrichtungen ungesühnt blieben, weder in Nord- und Ostsyrien noch in anderen Konfliktgebieten.

Klinik in Kobanê wird wieder aufgebaut

Der Trägerverein des Kobanê Medical Centers werde in keinem Fall aufgeben, stellte Gerhard Trabert klar. Gemeinsam mit schweizerischen und luxemburgischen Partner*innen werde aktuell am Wiederaufbau der Klinik gearbeitet. Sie soll im kommenden Jahr fertiggestellt werden und noch größer sein als der zerstörte Vorgängerbau. Die Angst vor den nächsten türkischen Angriffen bleibe allerdings bestehen.

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